Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
einen Moment loswerden, um die Gläser auszukippen.«
»Was hat
dich vorgewarnt?«, fragte Timon.
»Ein Stammgast
im Restaurant ›Zum Hafen‹ hat beobachtet, wie Harry an Angelas Tisch mit seinen
homöopathischen Tropfen hantierte. Was, für sich gesehen, niemanden verdächtig macht.
Bis Harry mir gegenüber seine Schlafprobleme erwähnte.«
»Eine nützliche
Schlussfolgerung«, sagte Timon. »Gamma-Hydroxybutyrat, kurz GHB, im Volksmund K.-o.-Tropfen
genannt, gibt es bei gewissen Schlafstörungen auf Rezept. Du hast gut auf dich aufgepasst.«
Unverhofft nahm er sie in den Arm und drückte sie an sich. Was guttat, wie sie feststellte.
Sie trennten sich voneinander, als Wolfert sich räusperte.
Norma wandte
sich dem Hauptkommissar zu und umarmte ihn, was er wie eine unangenehme medizinische
Behandlung standhaft über sich ergehen ließ.
»Danke,
Dirk!«, sagte sie, nachdem sie ihn losgelassen hatte. »Ich weiß, wie sehr dir solche
halb garen Einsätze gegen den Strich gehen.«
Er trat
einen Schritt zurück. »Aus gutem Grund! Wenn Gert-Michael nicht grünes Licht gegeben
hätte …«
»Dein Chef
hat sich getraut. Und Luigi war auch dafür. Wo steckt er überhaupt?«
Milano habe
den Einsatz von Aulhausen aus koordiniert, dem hinter dem Höllenbachtal gelegenen
Nachbardorf, und keinen Gedanken daran verschwendet, den Aufstieg auch nur zu versuchen.
Was eine weise Entscheidung war, dachte sie mit liebevoller Respektlosigkeit und
stellte sich einen schnaufenden Hauptkommissar vor, dessen italienische Flüche meilenweit
durch die Weinberge klangen.
Wolfert
trocknete sein verschwitztes Gesicht mit einem karierten Stofftaschentuch. »Hat
sich das Vabanquespiel wenigstens gelohnt?«
Sie fasste
zusammen, was sie herausbekommen hatte. Wolfert nickte erleichtert.
Timon blieben
Zweifel. »Was nützt uns das? Seine Aussage steht gegen deine, Norma. Wenn Halvard
in Zukunft schweigt, bleibt die Beweislage so schwierig wie zuvor.«
Norma lächelte
zufrieden. »Halvard wird nicht davonkommen. Wir haben jedes seiner Worte aufgezeichnet.«
Sie befreite
sich von dem Klebeband unter der Bluse, das die Kabel und das winzige Aufnahmegerät
gehalten hatte, und reichte alles an Wolfert weiter. Der Vorschlag war von Milano
gekommen. Wolfert hatte nur widerstrebend zugestimmt, weil er befürchtete, Halvard
könnte sich provoziert fühlen, falls er die Kabel entdeckte. Norma hatte sich auf
das Wagnis eingelassen und stillschweigend das Messer mitgenommen.
Jetzt zeigte
sich Wolfert hoffnungsvoll. »Mit dieser Aussage haben wir einiges in der Hand, was
uns hilft, selbst wenn sich die Staatsanwaltschaft mit der heimlichen Aufnahme schwer
tun sollte. Ich bin zuversichtlich, was Halvards Geständnis betrifft. Er konnte
nicht ausschließen, dass Norma die Polizei informiert, und hat sich trotzdem auf
das Treffen eingelassen. Wir alle kennen das Phänomen, wenn ein Täter unbewusst
zu seiner Verhaftung beiträgt. Insgeheim wollte vielleicht auch Halvard gefasst
werden.«
Norma stimmte
ihm zu. »Mir kommt es so vor, als habe er den Mord an Ewald über die Jahrzehnte
zu vergessen versucht. Mit dem aktuellen Verbrechen an Angela wird er nicht fertig.
Auch ich bin mir sicher, er wird beide Morde gestehen.«
Timon schüttelte
bestürzt den Kopf. »Und trotzdem hat er geplant, dich zu betäuben und den Felsen
hinabzustürzen? Was für eine kriminelle Energie. Da kann ich froh sein, dass sich
meine Präparate so friedlich verhalten.«
»Mit der
Knochenpost ist jedenfalls Schluss«, sagte Norma erleichtert. »Henriette wollte,
dass ihr Mann mit kirchlichem Beistand bestattet wird. Dem Wunsch steht bald nichts
mehr entgegen.«
Wolfert
rückte seine Brille zurecht. »Ich bin seit so vielen Jahren Polizist. Und lasse
mich immer wieder verblüffen, zu welchen kruden Handlungen sich manche Menschen
treiben lassen.«
Norma pflichtete
ihm bei. »Henriette steckte in der Zwickmühle. Sie konnte die Identität des Skeletts
nicht bekannt geben, ohne den Verdacht auf Harry zu lenken. Ein zweifacher Verrat,
in ihren Augen. Die große Lebenslüge, ihr uneheliches Kind, wäre aufgeflogen. Außerdem
und folgenreicher: Ihr geliebter heimlicher Sohn wäre als Mörder bloßgestellt worden.«
»Dafür nahm
sie in Kauf, dass ihr zweiter Sohn Oliver unschuldig in Verdacht geriet«, warf Timon
kopfschüttelnd ein.
»Sie wollte
abwarten«, entgegnete Norma. »Ihr war klar, wir konnten Oliver nichts Konkretes
nachweisen. Und falls doch, hätte sie immer noch
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