Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
abgestellt. Alles schien ruhig.
Norma folgte
dem Pfad, der zwischen den knorrigen Weinreben bergauf führte. Gewaltige Stützmauern
unterbrachen den Weinberg, und über in die Mauern eingelassene Steintreppen führte
der Weg voran in den sich zusehends steiler neigenden Berghang. Sie trug Wanderschuhe,
eine weite Leinenbluse und eine voluminöse Baumwollhose, die bis zum Knöchel reichte
und ihr viel Bewegungsfreiheit schenkte. Vorsichtig balancierte sie über eine brüchige
Mauerkante. Ein Fehltritt, und sie würde tief unten inmitten der Rebstöcke aufschlagen.
Als sie wieder festeren Boden unter sich hatte, hielt sie inne und schaute auf das
sich in das tief eingeschnittene Tal schmiegende Städtchen mit seinem weißen Kirchturm,
der die Dächer hoch überragte. Auf der Uferseite gegenüber wuchs aus einer Felswand
die stolze Burg Rheinstein empor.
Als sie
befürchten musste, das Ziel verfehlt zu haben, entdeckte sie ein Stück bergauf endlich
die Felswand mit dem scharfkantigen Überhang, die er als Wegmarke beschrieben hatte.
Durch das Gebüsch unterhalb schimmerte das Bruchsteinmauerwerk einer Terrassenbefestigung.
Wenige Schritte weiter kam der Giebel eines Weinberghäuschens in Sicht. Unscheinbar
lugte er über den Bewuchs hinweg. Verschwitzt und außer Atem kletterte sie die wackligen
Treppenstufen hinauf, die vor dem Häuschen endeten. Der abgeschlagene Putz und die
leeren Tür- und Fensteröffnungen zeugten von jahrelanger Vernachlässigung. Auch
die Weinreben wirkten ungepflegt, und größere Bereiche des bedenklich steilen Weinbergs
wurden von Gestrüpp überwuchert. Sie hielt erst inne, als sie die Mauerkante erreichte.
Sie wurde erwartet. Ein Mann stand in der Türöffnung. Er trug eine abgewetzte Jeans
und ein kurzärmliges Hemd. Sein Gesicht lag im Schatten.
Als Harry
Halvard ins Sonnenlicht trat, zeigte er sein gewinnendes Lächeln. »Frau Tann! Ich
bedaure, dass Sie sich extra hinaufbemühen mussten, um mich zu sprechen. Leider
ging es nicht anders als hier und jetzt. Ich muss jede Stunde nutzen. Sie sehen
selbst: In diesem Weinberg ist eine Menge zu tun. Weiß jemand, dass wir uns hier
oben treffen?«
»Nein, ich
habe niemandem davon erzählt. Warum fragen Sie?«
Er schien
zufrieden. »Ich möchte hier ungestört bleiben. Sie glauben gar nicht, wie aufdringlich
sich manche Weinmagazinleser gebärden können.«
Unterhalb
breitete sich das Mosaik der Weinberge aus. Der warme Aufwind trug das Rattern der
Bahn hinauf, das sich mit dem Surren der Hummeln und den Schreien eines Greifvogels
verwob.
»Umso freundlicher,
dass Sie mich empfangen«, schmeichelte Norma. »Ich muss zugeben, mein Respekt vor
Winzern, die derartige Hänge bewirtschaften, ist mit jedem Höhenmeter gewachsen.«
Halvard
stimmte ihr gut gelaunt zu. »Eine große Mühe, aber es lohnt sich, die Flächen zu
erhalten. Hier wächst ein sehr besonderer Wein! Assmanshausen ist nicht allein wegen
dieser Steillagen berühmt. Wir befinden uns auf einer Rotweininsel mitten im Rheingau.
Auf diesen Hängen wächst fast ausschließlich Spätburgunder.«
Norma schaute
über die Mauerkante. Auf dem Strom tief unten begegneten sich zwei Lastkähne. »Der
Höllenberg ist wahrhaftig höllisch steil.«
Halvard
grinste. »Bis zu 60 Prozent, wenn Sie es genau wissen wollen. Kommen Sie!«
Er ging
voraus zu einem kleinen, dem Weinberghäuschen vorgelagerten Balkon, der im Grunde
nicht mehr war als eine auskragende Betonplatte. Ein Geländer gab es nicht. Auf
der knappen Fläche drängten sich ein kleiner Holztisch und zwei Klappstühlen aneinander.
Auf dem Tisch war eine Weinflasche bereitgestellt.
Norma staunte.
»Auf ein Picknick war ich nicht gefasst.«
»Das muss
sein an diesem traumhaften Ort«, schwärmte Halvard. »Bei diesem fantastischen Ausblick!
Wenn ich von hier Ausschau halte, weiß ich, warum ich mir die Quälerei im Weinberg
aufbürde.«
»Dieser
Weinberg gehört also Ihnen?«
Er bejahte
es, was eine Lüge war. Gleich nach der Verabredung mit Halvard hatte sie Adam Dyzek
angerufen. Er war in Zeitdruck und wenig erbaut über ihr Anliegen, hatte ihr aber
innerhalb einer Viertelstunde eine aktuelle Aufstellung über die Besitzverhältnisse
im Assmannshäuser Höllenberg zugemailt. Niemand der Familie Halvard, weder Harry
noch die Ehefrau oder der Vater, waren darin zu finden.
Harry Halvard
entkorkte die Flasche. »Der Wein wird Ihnen schmecken. Ach, die Gläser fehlen noch.
Augenblick, bitte.«
Er ging
ins Häuschen und kehrte
Weitere Kostenlose Bücher