Eden und Orion - Lichtjahre zu dir
Tür.
Ich ging rüber ins Wohnzimmer. Das Bücherregal war leer, der Fernseher verschwunden. Nur das Sofa und der Couchtisch standen noch, wo sie immer gestanden hatten. Ich drückte den Lichtschalter, doch nichts tat sich. Den Strom hatten sie also auch abgeschaltet.
Ich rannte die Treppen hoch ins Badezimmer. Ein paar Handtücher hatten sie, ordentlich gefaltet, zurückgelassen, und ein halb aufgebrauchtes Stück Seife lag noch in einem Schälchen auf dem Waschbeckenrand. Zur Sicherheit drehte ich den Hahn auf – mit Erfolg: Wasser gab es noch. Es sah so aus, als hätten Ryan, Cassie und Ben ihre persönlichen Sachen und die meisten Möbel weggeschafft. Warum sie die wenigen Dinge, die noch da waren, zurückgelassen und nach welchen Kriterien sie aussortiert hatten, war mir allerdings nicht so ganz klar.
Ich ging in Ryans Zimmer. Sein Bett war abgezogen; das Bettzeug lag ordentlich gefaltet am Fußende. Nichts erinnerte mehr an ihn. Kein Skizzenblock, kein Buch, keine schmutzige Tasse. Keine noch so kleine Spur führte zu ihm. Ich wollte gerade wieder nach unten gehen, als ich ein Auto vorfahren hörte. Ich schaute aus dem Fenster und sah einen schwarzen Wagen auf das Gelände einfahren. Der Schreck fuhr mir durch Mark und Bein. Bis gerade eben hatte es jenseits meiner Vorstellungskraft gelegen, dass noch jemand außer mir ein Interesse daran haben könnte, hierherzukommen. Wenn ich es recht bedachte, war es aber mehr als logisch, dass sich der eine oder andere für das alte Bauernhaus interessierte. Immerhin stand das Haus leer. Ben hatte vor ihrer Rückreise bestimmt veranlasst, dass es verkauft würde. Der Gedanke, dass eine andere Familie hier einziehen könnte, zerriss mir beinahe das Herz. Die Vorstellung, dass ich dann nicht mehr zu unserem Apfelbaum gehen könnte. Wie viel Zeit würde mir noch bleiben, bis es so weit käme? Ein paar Tage? Wochen? Monate?
Ich hatte keine Lust, mich von einem Makler oder Anwalt im Haus erwischen zu lassen. Nur: Wie sollte ich ungesehen verschwinden? Die Hintertür führte nur in den hinteren Gartenbereich; von da aus kam man nicht weiter. Es führte nur ein einziger Weg vom Grundstück zurück auf die Straße: die Zufahrt – wo der Neuankömmling parkte. Ich würde mich ihm stellen müssen – ohne Wenn und Aber.
Besser gleich als nachher , sagte ich mir und stürzte die Treppe hinunter. Bringen wir es hinter uns . Ich ging zur Eingangstür.
Der Mann stand mit dem Rücken zu mir. Er hatte sich vornüber gebeugt und zog mit aller Kraft etwas aus dem Boden. Unseren Apfelbaum. Warum jemand ein kleines Bäumchen zerstören wollte, war mir vollkommen schleierhaft. Noch rätselhafter war aber die Identität des rabiaten Ruhestörers. Obwohl ich ihn nur von hinten sah, erkannte ich ihn sofort: Travis.
Ich wollte schon hinauslaufen und ihn anschreien, als eine seltsame Ahnung mich zurückhielt. Hier stimmte etwas nicht! Mit klopfendem Herzen trat ich zwei Schritte zurück und schloss die Tür so leise ich konnte. Dann schlich ich mich in die Küche und versteckte mich so in der Dunkelheit, dass ich ungesehen aus dem Fenster schauen konnte. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich sah, was Travis dort draußen anrichtete: Er warf das Pflänzchen achtlos ins Gras und grub weiter. Gleich würde er auf die Zeitkapsel stoßen. Der Baum und die Zeitkapsel waren meine einzige Verbindung zu Ryan, das einzige Zeichen, das wir gesetzt hatten.
Auf einmal verstand ich.
Und trat näher ans Fenster, um alles sehen zu können.
Travis hob die Zeitkapsel aus dem Loch und warf sie zu dem Bäumchen auf den Rasen. Dann legte er die Schaufel weg und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Als er sich umdrehte, um zum Haus zu schauen, sah ich, dass sein Gesicht vor Anstrengung rot angelaufen und seine Ärmel matschverschmiert waren. Schnell trat ich einen Schritt zurück.
Ob er mich gesehen hatte oder nicht, konnte ich nicht einschätzen. Ich hatte nicht länger als eine Sekunde am Fenster gestanden und es war bekanntlich schwerer, von draußen nach drinnen zu sehen, als andersherum. Ich könnte zum Auto rennen , überlegte ich, doch er würde mich garantiert abfangen. Oder durch die Hintertür abhauen . Das könnte klappen – nur was sollte ich dort draußen? Es gab kein sicheres Versteck im hinteren Gartenteil. Ich könnte mich oben in einem der Zimmer verstecken . Aber wenn er mich dort fände, säße ich in der Falle. Ich musste mich ihm stellen, es half alles nichts.
Mit
Weitere Kostenlose Bücher