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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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vergossen, so furchtbar erschrocken schien sie. Alles, was sie jedoch tat, war, daß sie sich beim Kamin in einen Winkel stellte und ununterbrochen mit kreischender Stimme Ki-keri-ki-i rief.
    Und nun kam der Höhepunkt, die Katastrophe des Dramas. Da den Leuten draußen kein anderer Widerstand als Schreien und Quaken und Krähen entgegengesetzt wurde, so waren die zehn Fenster sehr rasch und fast gleichzeitig eingeschlagen. Nie werde ich das Staunen und Entsetzen vergessen, mit dem ich diese Wesen anstarrte, die da durch die Fenster sprangen und sich stampfend und heulend und schlagend und kratzend unter uns stürzten. Sie glichen einem Heer von Schimpansen, Orang-Utans oder schwarzen Pavianen vom Kap der guten Hoffnung.
    Ich bekam einen furchtbaren Hieb, der mich unter das Sofa beförderte. Dort lag ich wohl fünfzehn Minuten und horchte angespannt auf die Vorgänge im Saal und fand schließlich die Lösung der Tragödie. Herr Maillard, der mir die Geschichte von dem Wahnsinnigen erzählte, der seine Genossen zur Rebellion verleitete, hatte nichts als seine eigenen Taten berichtet. Dieser Herr war tatsächlich vor zwei oder drei Jahren Leiter der Anstalt gewesen, wurde aber selbst verrückt und also den Kranken eingereiht. Diese Tatsache war meinem Reisegefährten, der mich hier einführte, unbekannt gewesen. Die Wärter, zehn an der Zahl, waren plötzlich überwältigt worden; dann hatte man sie mit Teer bestrichen, in Federn gewälzt und in unterirdische Zellen eingesperrt.
    Mehr als einen Monat waren sie so gefangen gehalten worden, während welcher Zeit Herr Maillard ihnen großmütigerweise nicht nur Teer und Federn (die sein »System« ausmachten), sondern auch etwas Brot und viel Wasser zukommen ließ. Mit letzterem wurden sie täglich übergossen. Einer von ihnen, der durch einen Abzugskanal entkommen war, befreite dann die andern.
    Das »Besänftigungs-System« ist, mit bedeutenden Einschränkungen, im Schlosse wieder aufgenommen worden; dennoch muß ich Herrn Maillard zustimmen, daß seine eigene »Behandlungsmethode« in ihrer Art ganz hervorragend war. Wie er richtig bemerkte war sie »einfach und klar und machte gar keine Umstände – durchaus keine.«
    Ich habe nur hinzuzufügen, daß ich alle Buchhandlungen Europas nach den Werken des Dr. Teer und des Prof. Feder abgesucht habe, daß aber bis auf den heutigen Tag meine Bemühungen vergeblich waren.

Die Sphinx

    Zur Zeit, als die fürchterliche Cholera in Neuyork herrschte, war ich der Einladung eines Verwandten gefolgt, vierzehn Tage in seinem Landhaus am Ufer des Hudson zu verbringen. Wir hatten hier alles, was man zur sommerlichen Unterhaltung braucht, und wir hätten die Zeit mit Waldspaziergängen und Malen, mit Rudern, Fischen, Baden, Musizieren und Lesen recht angenehm verbracht, wäre uns nicht allmorgendlich aus der volkreichen Stadt so grausige Botschaft zugegangen. Kein Tag ging hin, ohne uns Nachricht von dem Ableben irgendeines Bekannten zu bringen. Dann, als das Verhängnis zunahm, lernten wir, täglich mit dem Verlust eines Freundes zu rechnen. Schließlich zitterten wir beim Nahen jedes Boten. Die ganze Luft von Süden her schien uns nach Tod zu riechen. Ja, diese lähmende Vorstellung nahm von meiner ganzen Seele Besitz. Ich konnte von nichts anderm mehr reden oder träumen, an nichts andres mehr denken. Mein Gastgeber war nicht von so leichter Erregbarkeit, und obgleich er sehr niedergeschlagen blieb, bemühte er sich noch, meine Lebensgeister zu heben. Sein sehr philosophischer Verstand ließ sich nicht von Unwirklichkeiten berühren. Die wirklichen Schrecken empfand er stark genug, für ihre Schatten aber, ihre Spiegelungen, hatte er kein Verständnis.
    Seine Versuche, mich dem unnatürlichen Trübsinn, dem ich verfallen war, zu entreißen, wurden durch einige Schriften, die ich in seiner Bibliothek gefunden hatte, wieder zunichte gemacht. Sie waren derart, daß sie den Samen ererbten Aberglaubens, der latent in mir vorhanden war, zum Keimen brachten. Ich hatte jene Bücher ohne sein Wissen gelesen, und so blieb er im unklaren darüber, auf welche Ursachen meine unheimlichen Phantasien zurückzuführen seien.
    Ein bei mir beliebtes Thema war der volkstümliche Glaube an Zeichen und Wunder – ein Glaube, den ich nach meiner damaligen Lebensauffassung ernstlich zu verteidigen geneigt war. Wir führten lange und angeregte Zwiegespräche über diesen Gegenstand; er betonte, wie ganz unbegründet der Glaube an solche Dinge sei; ich

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