Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
Ist das Ihr Ernst? Gewiß, wir hier im Süden sind nicht sehr zimperlich – lassen uns ein wenig gehen – genießen das Leben, wissen Sie ...«
    »Gewiß,« sagte ich; »gewiß!«
    »Und dann ist vielleicht der Wein, der Clos de Vougeot, ein wenig schwer, wissen Sie – ein wenig stark – verstehen Sie, eh?«
    »Gewiß,« sagte ich; »gewiß! Beiläufig gesagt, mein Herr ist meine Annahme richtig, daß Sie sagten, statt des berühmten Besänftigungs-Systems hätten Sie nun ein System rücksichtsloser Strenge eingeführt?«
    »Keineswegs. Die Kranken befinden sich zwar in strengem Gewahrsam, aber die Behandlung – die ärztliche Behandlung, meine ich – ist geradezu eine angenehme.«
    »Und das neue System ist Ihre eigene Erfindung?«
    »Nicht ganz. Zum Teil geht es auf Dr. Teer zurück, von dem Sie sicher gehört haben; andrerseits habe ich aber Modifikationen eingeführt, die, wie ich mit Vergnügen feststelle, von dem berühmten Professor Feder stammen, mit dem Sie, wenn ich mich recht erinnere, die Ehre haben, näher bekannt zu sein.«
    »Ich muß leider bekennen,« erwiderte ich, »daß ich bisher nicht einmal den Namen eines der Herren gehört habe.«
    »Gütiger Himmel!« rief mein Wirt, schob seinen Stuhl zurück und erhob die Arme zum Himmel. »Ich habe mich wohl verhört! Wie? Sie wollen doch nicht sagen, Sie hätten von dem bekannten Dr. Teer und dem berühmten Professor Feder nie gehört?«
    »So ist es, wie ich beschämt gestehe«, entgegnete ich. »Aber Wahrheit ist die Hauptsache! Und ich bin tief unglücklich, mit den Werken dieser zweifellos hervorragenden Männer nicht vertraut zu sein. Ich werde das aber sogleich nachholen und ihre Schriften sorgsam durcharbeiten. Herr Maillard, Sie haben mich – ich muß es bekennen – Sie haben mich wirklich tief beschämt.«
    Und das war Tatsache.
    »Nichts mehr davon, lieber junger Freund,« sagte er liebenswürdig und drückte mir die Hand – »trinken wir ein Glas Sauterne miteinander.«
    Wir tranken. Die Gesellschaft tat ein Gleiches: alle tranken maßlos. Sie schwatzte – scherzten – lachten – verübten tausend Tollheiten. Die Fiedeln kreischten, die Trommel dröhnte, die Blasinstrumente gellten und bellten – und die ganze, durch die Wirkung des Alkohols immer wüster werdende Szene artete aus in höllische Raserei. Herr Maillard und ich, einige Flaschen Sauterne und Clos Vougeot vor uns, setzten indessen mit aller Kraft unserer Jungen die Unterhaltung fort. Ein mit normaler Stimme gesprochenes Wort hatte nicht mehr Aussicht, vernommen zu werden, als die Stimme eines Fisches vom Grunde der Niagara-Fälle.
    »Sie erwähnten vor Tisch«, brüllte ich ihm ins Ohr, »die Gefahren, welche das alte Besänftigungs-System mit sich brachte. Würden Sie mir darüber Aufschluß geben?«
    »Ja«, erwiderte er. »Es hat gelegentlich große Gefahren. Die Launen Wahnsinniger sind unberechenbar, und sowohl ich als auch Dr. Teer und Professor Feder sind der Ansicht, daß es niemals ratsam ist, sie unbewacht herumgehen zu lassen. Ein Irrer mag für einige Zeit ›besänftigt‹ werden, wie man so sagt, im Grunde aber ist er immer geneigt, in Tobsucht auszubrechen. Seine Verschlagenheit ist groß, ja sprichwörtlich. Wenn er einen Plan hat, so verbirgt er seine Absicht mit bewunderungswürdiger Schlauheit, und die Gewandtheit, mit der er ein Geheiltsein vortäuscht, bietet den Psychiatern eines der seltsamsten Probleme. In der Tat: wenn ein Geisteskranker vollkommen gesund erscheint, ist es hohe Zeit, ihn in die Zwangsjacke zu stecken.«
    »Aber die Gefahr, mein lieber Herr – von der Sie sprachen, sie als Leiter der Anstalt aus eigener Erfahrung kennengelernt zu haben – war es irgendein praktischer Fall, der Sie dahin brachte, die Freiheit eines Geisteskranken für gefährlich zu halten?«
    »Hier? – Aus eigener Erfahrung? – Ja, allerdings! Vor gar nicht langer Zeit ereignete sich hier im Hause ein eigentümlicher Fall. Das ›Besänftigungs-System‹ war damals noch in Anwendung, und die Kranken gingen frei umher. Sie betrugen sich gut, ausnehmend gut – ein kluger Mann hätte gerade daraus den Schluß ziehen müssen, daß irgendein teuflischer Anschlag geplant war. Und natürlich, eines schönen Morgens sahen sich die Wärter an Händen und Füßen gebunden und in die Zellen geworfen, wo sie von den Geisteskranken, die sich das Amt der Wärter angemaßt hatten, bewacht wurden, als seien sie die Kranken.«
    »Nicht möglich! Nie im Leben hab‘ ich

Weitere Kostenlose Bücher