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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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sie sich und hob
es wieder auf, ohne daß sich der stumpfe Ausdruck ihres vom Alter gezeichneten
Gesichts verändert hätte. Eine zweite Frau, das zerzauste Geschöpf, das Charity
einmal im Vorbeifahren bemerkt hatte, stand gegen den Fensterrahmen gelehnt und
starrte sie an; und nahe am Herd saß ein stoppelbärtiger Mann in zerrissenem
Hemd auf einem Faß und schlief.
    Der Raum war kahl und trostlos und
die Luft geschwängert vom Geruch von Schmutz und kaltem Tabakrauch. Charity
sank der Mut. Alte, oft belachte Geschichten über die Leute vom Berg fielen ihr
wieder ein, und der starre Blick der Frau war so
verwirrend, das Gesicht des schlafenden Mannes so aufgedunsen und gemein, daß
sich in das Gefühl des Abscheus eine unbestimmte Furcht mischte. Sie fürchtete
nicht um sich; sie wußte, es war unwahrscheinlich, daß die Hyatts sie behelligen
würden; aber sie war sich nicht sicher, wie sie einen »Kerl aus der Stadt«
behandeln würden.
    Lucius Harney hätte über ihre
Befürchtungen sicher gelacht. Er sah sich in dem Raum um und brachte, an alle
gerichtet, ein »Guten Tag« hervor, ohne eine Antwort zu erhalten; dann fragte
er die jüngere der beiden Frauen, ob sie sich hier unterstellen dürften, bis
der Sturm vorbei sei.
    Sie wandte
den Blick von ihm ab und sah Charity an.
    »Du bist
das Mädchen von den Royalls, stimmt's?«
    Charity stieg die Röte ins Gesicht.
»Ich bin Charity Royall«, sagte sie, als wolle sie ihren Anspruch auf diesen
Namen gerade an dem Ort geltend machen, wo er am ehesten in Frage gestellt
werden konnte.
    Die Frau schien nichts zu merken.
»Ihr könnt bleiben«, sagte sie lediglich; dann wandte sie sich ab und beugte
sich über eine Schüssel, in der sie irgend etwas umrührte.
    Harney und Charity setzten sich auf
eine Bank, die aus einem Brett bestand, das auf zwei Kisten ruhte. Sie blickten
auf eine Tür, die an einer zerbrochenen Angel hing, und durch den Spalt sahen
sie die Augen des flachshaarigen Jungen und eines blassen kleinen Mädchens mit
einer Narbe auf der Wange. Charity lächelte und winkte die Kinder zu sich; aber
sobald sie merkten, daß man sie entdeckt hatte, machten sie sich auf nackten
Füßen davon. Ihr kam der Gedanke, daß sie vielleicht Angst hatten, den
schlafenden Mann zu wecken, und wahrscheinlich teilte die Frau die Furcht, denn
sie bewegte sich genauso geräuschlos hin und her und vermied es, in die Nähe
des Herdes zu kommen.
    Der Regen prasselte immer noch gegen
das Haus, und an ein, zwei Stellen ergoß sich ein Strom durch die zugestopften
Fensterscheiben und sammelte sich in Pfützen auf dem Fußboden. Hin und wieder
miaute das Kätzchen, strampelte sich frei und sprang auf den Boden; dann bückte
sich die alte Frau, packte es und hielt es mit ihren knochigen Händen fest; und
ein-, zweimal wachte der Mann auf dem Faß beinahe auf, veränderte seine
Haltung und döste wieder ein, wobei sein Kopf auf die behaarte Brust sank.
Während die Minuten vergingen und der Regen immer noch gegen die Fenster
schlug, überkam Charity ein Abscheu gegen dieses Haus und diese Menschen. Der
Anblick der schwachsinnigen alten Frau, der verschüchterten Kinder und des zerlumpten
Mannes, der seinen Rausch ausschlief, ließ ihr die Umgebung, in der sie lebte,
als Inbegriff der Ruhe und des Wohlstands erscheinen. Sie dachte an die Küche
in Mr. Royalls Haus, an den geschrubbten Fußboden, an das mit Porzellan
gefüllte Büfett und an den eigentümlichen Geruch von Hefe, Kaffee und
Schmierseife, den sie immer gehaßt hatte, der ihr aber nun das Symbol
häuslicher Ordnung zu sein schien. Sie sah Mr. Royalls Zimmer vor sich, den
hochlehnigen Roßhaarsessel, den ausgeblichenen Flickenteppich, die Bücherreihe auf dem
Regal, den Stich mit dem Titel »Die Übergabe von Burgoyne« über dem Ofen, die
Fußmatte mit dem braunweißen Spaniel auf moosgrünem Grund. Und dann wanderten
ihre Gedanken zu Miss Hatchards Haus, wo alles Frische, Reinheit und
Wohlgeruch atmete und mit dem verglichen ihr das rote Haus immer so armselig
und unansehnlich erschienen war.
    »Hier gehöre ich hin – hier bin ich
zu Hause«, wiederholte sie sich in Gedanken immer wieder; aber die Worte waren
ohne Bedeutung für sie. Instinkt und Gewohnheiten machten sie zu einer Fremden
unter diesen armen Moorbewohnern, die wie Ungeziefer in ihrer Höhle hausten.
Von ganzem Herzen wünschte sie, sie hätte Harneys Neugier nicht nachgegeben und
ihn hierhergebracht.
    Der Regen hatte sie bis auf die Haut
durchnäßt, und

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