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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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Waldes. Insekten tanzten in
der Luft, und eine Schar weißer Schmetterlinge fächelte die zarten Spitzen des
purpurroten Feuerkrauts. Im Tal unten sah man kein einziges Haus, und es
schien, als seien Charity Royall und der junge Harney die einzigen Lebewesen in
der tiefen Senke aus Himmel und Erde.
    Charitys Hochstimmung verflog
allmählich, und die beunruhigenden Gedanken krochen zu ihr zurück. Der junge
Harney war still geworden, und als er so neben ihr lag, die Arme unter dem
Kopf, den Blick auf das Blätterdach über sich geheftet, fragte sie sich, ob er
dar über nachsann, was Mr. Royall ihm erzählt hatte, und ob sie dadurch wirklich
in seiner Achtung gesunken sei. Sie wünschte, er hätte sie nicht gebeten, ihn
ausgerechnet an diesem Tag zu dem braunen Haus zu führen; sie wollte nicht,
daß er die Leute sähe, von denen sie herstammte, solange die Geschichte ihrer
Herkunft noch frisch in seinem Gedächtnis war. Mehr als einmal war sie versucht
gewesen, ihm vorzuschlagen, sie sollten dem Verlauf des Bergkamms folgen und
direkt nach Hamblin fahren, wo ein kleines verlassenes Haus stand, das er sehen
wollte; aber Scheu und Stolz hielten sie zurück. »Er soll ruhig sehen, zu was
für Leuten ich gehöre«, sagte sie sich mit etwas gezwungenem Trotz; denn in
Wirklichkeit war es Scham, die ihr den Mund verschloß.
    Plötzlich streckte sie die Hand aus
und zeigte zum Himmel. »Es zieht ein Sturm auf.«
    Er folgte ihrem Blick und lächelte.
»Vor diesem Wolkenfetzen zwischen den Tannen haben Sie Angst?«
    »Sie steht über dem Berg, und eine
Wolke über dem Berg bedeutet immer Schlimmes.«
    »Ach, ich glaube nicht die Hälfte
der schlimmen Dinge, die ihr alle vom Berg erzählt! Aber wir werden auf jeden
Fall vor dem Regen unten am braunen Haus sein.«
    Er behielt beinahe recht, denn nur
ein paar vereinzelte Tropfen waren gefallen, als sie in den Weg unterhalb der
schattigen Flanke des Porcupine einbogen und das braune Haus erreichten. Es
stand allein am Rande eines Moors, das von Erlendickicht und hohen Binsen gesäumt war. Kein anderes Haus war
zu sehen, und es war schwer vorstellbar, was den ersten Siedler dazu bewogen
haben mochte, sein Haus an einem so unwirtlichen Ort zu errichten.
    Charity hatte bereits so viel von
ihrem Gefährten gelernt, daß sie verstand, was ihn an diesem Haus gereizt
hatte. Sie bemerkte das fächerförmige Maßwerk des zerbrochenen Fensters über
der Tür, die Kannelierungen der ungestrichenen Säulen an den Ecken und das
runde Fenster im Giebel; und sie wußte, daß, aus Gründen, die sie immer noch
nicht begriff, dies Dinge waren, die man bewundern und aufzeichnen mußte. Freilich
hatten sie andere, viel »typischere« Häuser gesehen (das Wort stammte von
Harney); und als er dem Pferd die Zügel über den Hals warf, sagte er mit einem
leisen Schauder: »Wir werden nicht lange bleiben.«
    Vor den schwankenden Erlen, die die
weiße Unterseite ihrer Blätter dem Sturm zuwandten, wirkte das Haus besonders
trostlos. Die Farbe war fast ganz von den Schindeln abgeblättert, die
Fensterscheiben waren zerbrochen und mit Lumpen zugestopft, und der Garten war
ein entsetzliches Gewirr aus Brennesseln, Kletten und hohem Sumpfgras, über
dem dicke Schmeißfliegen summten.
    Beim Geräusch der Räder spähte ein
Kind mit dem Flachshaar und den blassen Augen Liff Hyatts über den Zaun und
schlüpfte dann hinter ein Nebengebäude. Harney sprang vom Wagen und half
Charity beim Aussteigen; genau in diesem Augenblick prasselte der Regen los.
Er kam von der Seite, von einem heftigen Sturm getrieben, bog Sträucher und
junge Bäume zu Boden, riß ihnen die Blätter weg wie ein Herbststurm,
verwandelte den Weg in einen Bach und jede Vertiefung in eine brodelnde Pfütze.
Unablässig rollte der Donner durch das Dröhnen des Regens, und ein seltsamer
Lichtstreif lief unter der dichter werdenden Finsternis über den Boden hin.
    »Ein Glück, daß wir wenigstens hier
sind«, lachte Harney. Er band das Pferd in einem Schuppen fest, dem das halbe
Dach fehlte; dann hüllte er Charity in seinen Mantel und rannte mit ihr zum
Haus. Der Junge war nicht mehr aufgetaucht, und da niemand auf ihr Klopfen
reagierte, drehte Harney den Türknauf, und sie gingen hinein.
    Die Tür führte in die Küche, in der
sich drei Leute befanden. Eine alte Frau mit einem Tuch auf dem Kopf saß am
Fenster. Sie hielt ein räudiges Kätzchen auf dem Schoß, und jedesmal, wenn das
Tier auf den Boden sprang und davonzuhumpeln versuchte, bückte

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