Edith Wharton
wirklich bedeuteten,
denn sein Verhalten war so anders als alles, was sie in North Dormer je gesehen
hatte. Er war zwangloser und zugleich respektvoller als alle, die sie je
gekannt hatte; und manchmal empfand sie gerade dann, wenn er sich am
zwanglosesten gab, den Abstand zwischen ihnen am stärksten. Sie waren durch
Erziehung und unterschiedliche Umstände so weit voneinander entfernt, daß keine
Bemühung Charitys den Abstand überbrücken konnte, und selbst wenn seine Jugend
und seine Bewunderung ihn ihr ganz
nahebrachten, schien ein zufällig hingeworfenes Wort, eine unbewußte Anspielung
sie auf die andere Seite des Abgrunds zurückzustoßen.
Nie war diese Kluft so groß gewesen
wie in jenem Augenblick, als sie hinauf in ihr Zimmer flüchtete, das Echo von
Mr. Royalls Geschichte noch im Ohr. In der ersten Verwirrung betete sie darum,
daß sie den jungen Harney niemals wiedersehen möge. Es schmerzte zu sehr, ihn
sich als unbeteiligten, unvoreingenommenen Zuhörer einer solchen Geschichte
vorstellen zu müssen. »Wenn er doch gehen würde: ich wünschte, er würde morgen
gehen und nie mehr wiederkommen!« stöhnte sie in ihr Kissen; und bis tief in
die Nacht lag sie da in ihrem zerknitterten Kleid, daß sie auszuziehen vergessen
hatte, und ihr ganzes Inneres war ein tosender Jammer, auf dem ihre Hoffnungen
und Träume herumwirbelten wie untergehende Strohhalme.
Von diesem ganzen Aufruhr war nur
eine vage Betrübnis übrig, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Ihr
erster Gedanke war das Wetter, denn Harney hatte sie gebeten, ihn zu dem
braunen Haus unter dem Porcupine zu bringen und auf dem Rückweg über Hamblin
zu fahren; und da es ein langer Weg war, wollten sie um neun aufbrechen. Die
Sonne stieg ohne eine Wolke empor, und früher als sonst war Charity in der
Küche, bereitete Käsebrote vor, füllte Buttermilch in eine Flasche, packte ein
paar Stücke Apfelkuchen ein und beschuldigte Verena, einen Korb weggegeben zu
haben, den sie jetzt brauchte, und der immer an einem Haken im Flur gehangen hatte. Als
sie in ihrem rosa Baumwollkleid auf die Veranda trat, das in der Wäsche etwas
ausgeblichen, aber immer noch leuchtend genug war, um ihr dunkles Haar und ihre
braune Haut zur Geltung zu bringen, hatte sie das jubelnde Gefühl, eins mit dem
Sonnenschein und dem Morgen zu sein, so daß auch die letzte Spur ihres Kummers
verschwand. Was spielte es schon für eine Rolle, woher sie kam oder wessen
Kind sie war, wenn die Liebe in ihren Adern tanzte und sie den jungen Harney
die Straße herab auf sich zukommen sah?
Mr. Royall war ebenfalls auf der
Veranda. Beim Frühstück hatte er nichts gesagt, aber als sie in ihrem rosafarbenen
Kleid herauskam, den Korb in der Hand, sah er sie überrascht an. »Wohin gehst
du denn?« fragte er.
»Mr. Harney bricht doch heute früher
auf als sonst«, antwortete sie.
»Mr. Harney, Mr. Harney? Hat Mr.
Harney immer noch nicht gelernt, wie man einen Wagen kutschiert?«
Charity gab keine Antwort, und er
saß da, zurückgelehnt in seinem Sessel, und trommelte auf das Verandageländer.
Es war das erste Mal, daß er in diesem Ton von dem jungen Mann gesprochen
hatte, und Charity überlief leise ein ahnungsvoller Schauer. Nach einer Weile
stand Mr. Royall auf und ging zu dem Stückchen Land hinter dem Haus, wo ein Tagelöhner
hackte.
Die Luft war kühl und klar und
schimmerte in dem herbstlichen Glanz, den der Nordwind im Frühsommer den
Bergen verleiht; und die Nacht war so windstill gewesen, daß überall der Tau
hing – nicht als feuchter Dunst, sondern in einzelnen Tropfen,
die wie Diamanten auf Farnen und Gräsern glitzerten. Es war eine lange Fahrt
bis zum Fuß des Porcupine: zuerst durch das Tal, über dessen offenen Hängen
sich die blauen Berge auftürmen, dann hinunter in die Buchenwälder, die dem
Lauf des Creston folgen, einem braunen Bach, der über samtige Felsvorsprünge
dahinschießt; dann wieder hinaus aufs Ackerland um den Crestonsee und
schließlich nach und nach die Buckel des Eagle Range hinauf. Schließlich kamen
sie auf dem Bergsattel an, und vor ihnen öffnete sich ein anderes Tal, grün und
wild, und jenseits ragten wieder andere blaue Gipfel zum Himmel empor, wie die
Wellen einer zurückweichenden Flut.
Harney band das Pferd an einem
Baumstumpf fest, und unter einem alten Walnußbaum, aus dessen gespaltenem Stamm
Hummeln hervorschwirrten, packten sie ihren Korb aus. Es war heiß geworden, und
hinter sich hörten sie das mittägliche Murmeln des
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