Edith Wharton
sie begann in ihrem dünnen Kleid zu frieren. Die jüngere der
beiden Frauen hatte dies offenbar bemerkt, denn sie verließ den Raum und kam
mit einer angeschlagenen Teetasse wieder, die sie Charity reichte. Sie war
halb voll Whiskey, aber Charity schüttelte den Kopf; Harney nahm jedoch die
Tasse und führte sie an die Lippen. Charity sah, daß er in seiner Jackentasche
kramte, nachdem er die Tasse abgesetzt hatte, und einen Dollar hervorzog; er
zögerte einen Augenblick und steckte ihn dann wieder ein, und sie nahm an, daß
er nicht wollte, daß sie sähe, wie er Leuten Geld anbot, die sie als Verwandte
bezeichnet hatte.
Der schlafende Mann bewegte sich,
hob den Kopf und öffnete die Augen. Sie ruhten einen Moment lang geistesabwesend
auf Charity und Harney, dann schloß er sie wieder, und sein Kopf sank auf die
Brust; aber Angst trat in das Gesicht der Frau. Sie sah aus dem Fenster und
ging dann auf Harney zu. »Ich glaub', Sie gehn jetzt besser«, sagte sie. Der
junge Mann begriff und stand auf. »Danke«, sagte er und streckte seine Hand
aus. Sie schien die Geste nicht wahrzunehmen und wandte sich ab, als sie die
Tür öffneten.
Es regnete noch immer, aber sie
merkten es kaum: die klare Luft war wie Balsam auf ihren Gesichtern. Die Wolken
stiegen empor und teilten sich, und zwischen ihren Rändern strömte das Licht
aus ferner Bläue herab. Harney band das Pferd los, und sie fuhren im
nachlassenden Regen davon, in dem sich schon das Sonnenlicht brach.
Charity schwieg eine Zeitlang, und
auch ihr Gefährte sprach nicht. Sie sah ihn scheu von der Seite an: er wirkte
ernster als sonst, als habe auch ihn bedrückt, was sie gesehen hatten. Dann
sagte sie unvermittelt: »Die Leute sind wie die, von denen ich herstamme. Sie
könnten meine Verwandten sein, soviel ich weiß.« Er sollte nicht denken, daß es
sie reute, ihm ihre Geschichte erzählt zu haben.
»Arme Geschöpfe«, erwiderte er. »Ich
frage mich, warum sie sich da unten in diesem Fieberloch niedergelassen
haben.«
Sie stieß ein ironisches Lachen aus.
»Um sich zu verbessern. Auf dem Berg ist es noch schlimmer. Bash Hyatt hat die
Tochter des Farmers geheiratet, dem früher das braune Haus gehört hat. Der
beim Herd, das war er, glaube ich.«
Harney schien nicht zu wissen, was
er darauf sagen sollte, und sie fuhr fort: »Ich hab' gesehen, wie Sie einen Dollar rausgeholt haben und ihn
der armen Frau geben wollten. Warum haben Sie ihn wieder eingesteckt?«
Er wurde rot und beugte sich vor, um
eine Sumpffliege vom Hals des Pferdes zu verscheuchen. »Ich war mir nicht
sicher ...«
»War es deshalb, weil Sie wußten,
daß es meine Leute sind, und dachten, es wär' mir peinlich, wenn Sie ihnen Geld
geben?«
Er warf ihr einen vorwurfsvollen
Blick zu. »Oh, Charity ...« Es war das erstemal, daß er sie beim Namen nannte.
Ihr Jammer floß über.
»Ich ... ich schäme mich nicht. Es
sind meine Leute, und ich schäme mich nicht ihretwegen«, schluchzte sie.
»Mein Liebes ...«, flüsterte er und
legte seinen Arm um sie; und sie lehnte sich an ihn und weinte ihren Schmerz
aus.
Es war zu spät, um noch nach Hamblin
zu fahren, und die Sterne standen bereits am klaren Himmel, als sie das Tal von
North Dormer erreichten und auf das rote Haus zufuhren.
7
Seit Charity wieder in Miss Hatchards Gunst stand,
hatte sie nicht gewagt, ihre Dienstzeit in der Bibliothek auch nur um einen
Augenblick zu verkürzen. Sie machte es sich sogar zum Grundsatz, vor der Zeit
zu erscheinen, und legte eine lobenswerte Entrüstung an den Tag, wenn das
jüngste der Targatt-Mädchen, das eingestellt worden war, um beim Abstauben und
Ordnen der Bücher zu helfen, zu spät hereingetrödelt kam und ihre Pflichten
vernachlässigte, um aus dem Fenster nach den Sollas-Jungs Ausschau zu halten.
Dennoch kamen Charity die »Bibliothekstage« nach den aufregenden Stunden, die
sie in Freiheit verbrachte, langweiliger vor denn je; und es wäre ihr
schwergefallen, ihrer Untergebenen mit gutem Beispiel voranzugehen, wenn
Lucius Harney nicht vor Miss Hatchards Abreise beauftragt worden wäre,
gemeinsam mit dem ortsansässigen Schreiner die besten Möglichkeiten für die
Belüftung der Gedächtnisbibliothek zu erkunden.
Er war darauf bedacht, diese
Untersuchung an den Tagen zu betreiben, an denen die Bibliothek für das Publikum
geöffnet war; und Charity konnte daher damit rechnen, einen Teil des
Nachmittags in seiner Gesellschaft zu verbringen. Die
Anwesenheit der kleinen Targatt und die Gefahr,
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