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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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hast du gewußt – du hast mir vertraut. Trotz all deiner
Sticheleien und Spötteleien hast du immer gewußt, daß ich dich so liebe, wie
ein Mann eine anständige Frau liebt. Ich bin ein paar Jahre älter als du, aber
ich bin diesem Dorf und allen seinen Bewohnern haushoch überlegen, und auch das
weißt du. Ich habe einmal einen Fehler begangen, aber das ist kein Grund, nicht
von neuem anzufangen. Wenn du mit mir kommst, tu ich's. Wenn du mich heiratest,
gehen wir fort von hier und lassen uns in irgendeiner großen Stadt nieder, wo
es Menschen und Handel und Wandel gibt. Es ist für mich noch
nicht zu spät für einen neuen Anfang ... Ich seh' es an der Art, wie man mich
behandelt, wenn ich nach Hepburn oder nach Nettleton komme ...«
    Charity bewegte sich nicht. Nichts
von dem, worum er sie bat, rührte an ihr Herz, und sie dachte nur an Worte, mit
denen sie ihn verletzen und quälen könnte. Doch eine zunehmende Mattigkeit
hielt sie davon ab. Was bedeutete schon, was er sagte? Sie sah, wie das frühere
Leben wieder Besitz von ihr ergriff, und beachtete kaum, wie verlockend er den
Neubeginn ausmalte.
    Sie hörte, wie er drängte: »Charity – Charity – sag, daß du einverstanden bist«, und in seiner Stimme klangen alle
seine verlorenen Jahre, all seine vergeudete Leidenschaft mit.
    »Ach, und was soll das alles nützen?
Wenn ich von hier fortgehe, dann nicht mit dir.«
    Sie ging während sie sprach, zur
Tür, doch er stand auf und stellte sich zwischen sie und die Schwelle.
Plötzlich wirkte er groß und stark, als habe ihm das Ausmaß seiner Demütigung
neue Kräfte verliehen.
    »Ist das alles, ja? Es ist nicht
viel.« Er lehnte sich gegen die Tür, so mächtig und stolz, daß er den schmalen
Raum auszufüllen schien. »Nun gut – hör zu ... Du hast recht: ich habe keinen
Anspruch auf dich – warum solltest du einen gebrochenen Mann wie mich ansehen?
Du willst den anderen ... und ich mache dir keinen Vorwurf. Du hast dir das
beste ausgesucht, als sich's dir anbot ... nun, so habe ich's auch immer
gehalten.« Er sah sie mit ernsten Augen an, und sie hatte den Eindruck, daß der Kampf in seinem Inneren an
seinem Höhepunkt angelangt war. »Willst du, daß er dich heiratet?« fragte er.
    Sie standen da und sahen sich lange
an, Auge in Auge und mit dem so schrecklich ebenbürtigen Mut, der ihr manchmal
das Gefühl gab, sein Blut fließe in ihren Adern.
    »Willst du, daß er – bleibt? In
einer Stunde habe ich ihn hier, wenn du's willst. Ich bin nicht umsonst seit
dreißig Jahren Jurist. Er hat Carrick Frys Gespann gemietet, das ihn nach
Hepburn bringen soll, aber er wird nicht vor der nächsten Stunde aufbrechen.
Und ich kann ihm die Sache so darstellen, daß er nicht lange für seine
Entscheidung brauchen wird ... Er ist gutmütig: so viel hab' ich gemerkt. Ich
sag' nicht, daß es dir hinterher nicht leidtun wird, aber bei Gott, ich geb'
dir die Chance dazu – wenn du ja sagst.«
    Sie hörte ihn schweigend an, zu weit
weg von allem, was er empfand und sagte, als daß irgendeine höhnische Bemerkung
ihr hätte Erleichterung verschaffen können. Während sie zuhörte, blitzte in
ihr für einen Bruchteil einer Sekunde der Anblick von Liff Hyatts schmutzigem
Stiefel auf, wie er sich auf die weißen Brombeerblüten senkte. Nun war das
gleiche geschehen; etwas Vergängliches, Kostbares hatte in ihr geblüht, und
sie hatte ruhig zugesehen, wie es zertrampelt wurde. Während dieser Gedanke
sie durchfuhr, bemerkte sie, daß Mr. Royall immer noch an der Tür lehnte, aber
zusammengesunken, als wäre ihr Schweigen die Antwort, die er am meisten
fürchtete.
    »Ich will überhaupt keine Chance,
die du mir geben kannst: ich bin froh, daß er fortgeht«, sagte sie.
    Er blieb noch einen Augenblick so
stehen, die Hand auf dem Türknauf. »Charity!« sagte er bittend. Sie gab keine
Antwort, und er drehte den Türknauf und ging hinaus. Sie hörte, wie er sich am
Haustürschloß zu schaffen machte, und sah ihn die Stufen hinuntergehen. Er
schritt durch das Tor, und seine Gestalt, gebeugt und schwerfällig, entschwand
langsam die Straße hinunter.
    Eine Weile blieb sie da, wo er sie
hatte stehen lassen. Sie zitterte noch immer von der Demütigung seiner letzten
Worte, die so laut in ihren Ohren klangen, daß es schien, als müßten sie durch
das ganze Dorf hallen und sie zu einem Geschöpf stempeln, das solch schändlichen
Vorschlägen Gehör schenkte. Die Scham lastete auf ihr wie ein physischer Druck:
das Dach und die Wände

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