Edith Wharton
schienen näher an sie heranzurücken, und es verlangte
sie, hinauszurennen unter den weiten Himmel, wo Platz zum Atmen wäre. Sie ging
zur Haustür, und in diesem Augenblick kam Lucius Harney herein.
Er wirkte ernster und weniger
selbstsicher als sonst, und einen Augenblick lang sprach keiner von beiden ein
Wort. Dann streckte er seine Hand aus. »Wollen Sie gerade ausgehen?« fragte
er. »Darf ich trotzdem hereinkommen?«
Ihr Herz schlug so heftig, daß sie
sich nicht zu sprechen traute, und sie stand da und sah ihn mit tränenerfüllten
Augen an; dann wurde ihr bewußt, wie verräterisch ihr Schweigen war, und sie
sagte rasch: »Ja, kommen Sie herein.«
Sie ging ihm voraus ins Eßzimmer,
und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch, zwischen sich die
Karaffen mit Essig und Öl und den lackierten Brotkorb. Harney hatte seinen
Strohhut auf den Tisch gelegt, und während er so dasaß in seiner lässigen Sommerkleidung,
eine braune Krawatte unter dem Flanellkragen, das weiche braune Haar aus der
Stirn gebürstet, stellte sie ihn sich so vor, wie sie ihn die Nacht zuvor gesehen
hatte, auf dem Bett ausgestreckt, mit zerzausten Locken, die ihm in die Augen
fielen, und dem bloßen Hals, der aus dem offenen Hemd hervorsah. Nie war er ihr
so fern erschienen wie in dem Augenblick, als dieses Bild in ihrer Erinnerung
aufblitzte.
»Es tut mir so leid, daß ich
Abschied nehmen muß: vermutlich wissen Sie, daß ich abreise«, begann er, abrupt
und verlegen; sie erriet, daß er sich fragte, wieviel sie von seinen Gründen,
abzureisen, wußte.
»Ich nehme an, Sie waren mit Ihrer
Arbeit schneller fertig, als Sie erwartet hatten«, sagte sie.
»Nun ja – das heißt, nein: es gibt
noch vieles, was ich gern getan hätte. Aber meine Ferien sind begrenzt; und
jetzt, wo Mr. Royall das Pferd selbst braucht, ist es ziemlich schwierig,
irgendein Fortbewegungsmittel zu finden.«
»Es gibt nicht viele Gespanne hier
in der Gegend zu mieten«, stimmte sie zu; und wieder entstand ein Schweigen.
»Die Tage hier waren ... unglaublich
angenehm: ich wollte Ihnen dafür danken«, fuhr er fort, während ihm die Röte
ins Gesicht stieg.
Sie wußte nicht, was sie antworten
sollte, und er fuhr fort: »Sie sind ungeheuer freundlich zu mir gewesen, und
ich wollte Ihnen sagen ... Ich wollte, ich wüßte Sie glücklicher, nicht so
einsam ... Bestimmt ändern sich nach und nach die Dinge für Sie ...«
»Die Dinge ändern sich nicht in
North Dormer: man gewöhnt sich einfach an sie.«
Diese Antwort schien die Reihenfolge
seiner vorbereiteten Trostworte durcheinanderzubringen, und er sah sie unsicher an. Dann sagte er
mit seinem liebenswerten Lächeln: »Das gilt nicht für Sie, das kann nicht
sein.«
Das Lächeln schnitt ihr wie ein
Messer ins Herz: alles in ihr begann zu zittern und die Fassung zu verlieren.
Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, und stand auf.
»Also, auf Wiedersehen«, sagte sie.
Sie merkte, daß er ihre Hand nahm
und daß sein Händedruck leblos war.
»Auf Wiedersehen.« Er wandte sich ab
und blieb an der Schwelle stehen. »Richten Sie Verena einen Gruß von mir aus?«
Sie hörte, wie die Haustür
geschlossen wurde, dann seinen raschen Schritt den Weg hinunter. Das Tor fiel
klickend hinter ihm ins Schloß.
Als Charity am nächsten Morgen in der kalten Dämmerung
aufstand und ihre Fensterläden öffnete, sah sie einen sommersprossigen Jungen
auf der anderen Straßenseite stehen, der zu ihr hochschaute. Er war von einer Farm, die drei, vier Meilen die
Straße nach Creston hinunter lag, und sie überlegte, was er um diese Zeit hier
tat und warum er so aufmerksam ihr Fenster beobachtete. Als er sie bemerkte,
überquerte er die Straße und lehnte sich lässig ans Tor. Im Haus rührte sich
noch niemand, und sie warf sich einen Schal über ihr Nachthemd, lief hinunter
und aus dem Haus. Als sie am Tor ankam, schlenderte der Junge die Straße
hinunter und pfiff sorglos vor sich hin; aber sie sah, daß ein Brief zwischen
Stäben und Querbalken des Tors steckte. Sie zog ihn heraus und eilte in ihr
Zimmer zurück.
Der Umschlag trug ihren Namen, und
darin lag ein Blatt, das aus einem Notizbuch herausgerissen war.
Liebe Charity,
Ich kann nicht so weggehen. Ich bleibe
ein paar Tage in Creston River. Werden Sie herkommen und mich am Crestonteich
aufsuchen? Ich werde bis zum Abend auf Sie warten.
9
Charity saß vor dem Spiegel und probierte einen Hut
auf, den Ally Hawes unter großer Geheimhaltung für sie
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