Edith Wharton
hat dich gesehen, wie du
ins Haus dieses Burschen gegangen bist.. Man hat dich gesehen, als du
herauskamst ... Ich habe es so kommen sehen, und ich habe versucht, es zu verhindern.
Gott ist mein Zeuge, ich habe ...«
»Aha, also warst du es doch? Ich
wußte, daß du es warst, der ihn weggeschickt hat!«
Er sah sie überrascht an. »Hat er
dir das nicht gesagt? Ich dachte, er hätte verstanden.« Er sprach langsam, mit
mühsamen Pausen. »Ich habe deinen Namen nicht erwähnt: eher hätte ich mir die Hand
abgehackt. Ich habe ihm nur gesagt, daß ich das Pferd nicht länger entbehren
kann und daß das Kochen für Verena zu anstrengend wird. Mir scheint, er gehört
zu der Sorte, die so was öfter hören. Jedenfalls hat er es recht gelassen
aufgenommen. Er sagte, er sei mit seiner Arbeit hier ohnehin beinahe fertig;
und sonst ist kein Wort zwischen uns gefallen ... Wenn er dir etwas anderes
erzählt hat, hat er die Unwahrheit gesagt.«
Charity hörte ihm zu, wie
versteinert vor Zorn. Es war ihr gleichgültig, was man sich im Dorf erzählte
... Aber daß ihre Träume derart in den Schmutz gezogen wurden!
»Ich hab' dir doch gesagt, daß er
mir nichts erzählt hat. Ich hab' gestern nacht nicht mit ihm gesprochen.«
»Du
hast nicht mit ihm gesprochen?«
»Nein ... Nicht, daß es mir etwas
ausmacht, was irgendeiner von euch sagt ... aber du kannst es ruhig wissen.
Die Dinge stehen nicht so zwischen uns, wie du denkst ... und die andern im
Dorf. Er war nett zu mir; er war mein Freund; und plötzlich kam er nicht mehr,
und ich wußte, daß du daran Schuld warst – du!« Ihre Erinnerungen flammten auf,
unversöhnt, und kehrten sich gegen ihn. »Deshalb bin ich vergangene Nacht hingegangen,
um herauszubekommen, was du zu ihm gesagt hast: das ist alles.«
Mr. Royall holte mühsam Atem. »Aber
dann – wenn er nicht da war, was hast du dann die ganze Zeit dort gemacht?
Charity, sag's mir um Himmels willen. Ich muß es wissen, damit ich ihr Gerede
unterbinden kann.«
Sein mitleiderregender Verzicht auf
alle Autorität über sie rührte sie nicht: sie empfand nur die Schändlichkeit
seiner Einmischung.
»Begreifst du nicht, daß es mir
einerlei ist, was die Leute sagen? Es stimmt, ich bin hingegangen, um ihn zu
sehen; und er war in seinem Zimmer, und ich habe die ganze Zeit draußen
gestanden und ihn beobachtet; aber ich wagte nicht hineinzugehen, aus Angst, er
könnte glauben, ich laufe ihm nach ...« Sie spürte, wie ihr die Stimme
versagte, und raffte sich noch einmal trotzig auf. »Ich werde dir nie
verzeihen, solange ich lebe!« rief sie.
Mr. Royall gab keine Antwort. Er saß
da und dachte mit gesenktem Kopf nach, die geäderten Hände umklammerten die
Armlehnen seines Stuhls. Das Alter schien über ihn gekommen zu sein, so wie
sich der Wind nach einem Sturm auf den Hügel legt. Schließlich blickte er auf.
»Charity, du sagst, es sei dir
einerlei; aber du bist das stolzeste Mädchen, das ich kenne, und das letzte,
was ich möchte, daß die Leute über dich herziehen. Du weißt, daß du dauernd
beobachtet wirst: du bist hübscher und gescheiter als alle andern, und das
genügt schon. Aber bis vor kurzem hast du ihnen nie einen Anlaß gegeben. Jetzt
haben sie ihn, und sie werden ihn nutzen. Ich glaube, was du sagst, aber sie
werden dir nicht glauben ... Mrs. Tom Fry hat dich hineingehen sehen ... und
zwei oder drei von ihnen haben darauf gelauert, daß du wieder herauskämst ...
Du bist tagtäglich von morgens bis abends mit dem Burschen zusammengewesen, seit er hergekommen ist
... Ich bin Rechtsanwalt und weiß, wie zählebig böse Gerüchte sind.« Er hielt
inne, doch sie stand reglos da und ließ sich nicht anmerken, ob sie ihm
zustimme oder auch nur zuhöre. »Er ist ein anregender Gesprächspartner – ich
selbst habe ihn gern hier gesehen. Die jungen Männer hier in der Gegend haben
nicht die gleichen Möglichkeiten gehabt wie er. Aber eines ist so alt wie die
Berge und so klar wie der Tag: wenn er dich richtig haben wollte, hätte er's
gesagt.«
Charity sagte nichts. Es schien ihr,
daß nichts bitterer sein könne, als diese Worte aus diesem Munde zu hören.
Mr. Royall stand auf. »Sieh her,
Charity Royall: ein einziges Mal hatte ich einen sündigen Gedanken, und du hast
mich dafür zahlen lassen. Ist denn diese Rechnung nicht allmählich
beglichen ...? Es gibt eine Seite in mir, der ich nicht immer Herr werde; aber
ich habe mich dir gegenüber immer anständig verhalten, bis auf dieses einzige
Mal. Und das
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