Edith Wharton
begannen, auf der anderen Seite des Berges hinunterzufahren.
Nach ein paar Meilen kamen sie zu
einer Lichtung, wo zwei oder drei niedrige Häuser auf steinigen Äckern standen
und sich zwischen die Felsen duckten, wie um sich gegen den Wind zur Wehr zu
setzen. Es waren nur bessere Schuppen, aus Stämmen und grob zurechtgeschnittenen
Brettern erbaut, aus deren Dächern blecherne Ofenrohre ragten. Die Sonne ging
unter, und die Dämmerung war bereits über die tiefer liegende Welt
hereingebrochen, aber auf dem einsamen Hügel und den geduckten Häusern lag noch
ein gelber Schimmer. Im nächsten Augenblick erlosch er, und die Landschaft
lag im dunklen herbstlichen Zwielicht da.
»Da drüben«, rief Liff und streckte
seinen langen Arm über Mr. Miles' Schulter. Der Pfarrer fuhr nach links über
ein Stück Brachland, das mit Sauerampfer und Nesseln bewachsen war, und hielt
vor dem verfallensten aller Schuppen an. Ein Ofenrohr streckte seinen
gekrümmten Arm aus einem Fenster, und die zerbrochenen Scheiben des anderen
waren mit Papier und Lumpen zugestopft. Im Vergleich mit einer solchen Behausung
mußte das braune Haus im Moor als Palast erscheinen.
Als der Einspänner vorfuhr, sprangen
ein paar Köter mit lautem Gebell aus dem Halbdunkel, und ein junger Mann kam
zur Tür geschlurft und starrte sie an. In dem Zwielicht bemerkte Charity, daß
sein Gesicht denselben versoffenen Ausdruck hatte wie Bash Hyatts an jenem
Tag, als sie ihn schlafend neben dem Ofen gesehen hatte. Er machte keine
Anstalten, die Hunde zum Schweigen zu bringen, sondern lehnte, während Mr.
Miles aus dem Wagen stieg, in der Tür, als sei er nach langer Zeit aus einer
trunkenen Lethargie gerüttelt worden.
»Ist es hier?« fragte der Pfarrer
leise; und Liff nickte.
Mr. Miles wandte sich an Charity.
»Halte einen Augenblick die Zügel, Liebes. Ich geh' erst mal rein«, sagte er
und legte ihr die Zügel in die Hand. Sie nahm sie stumm entgegen und blickte
starr geradeaus auf die sich verdunkelnde Szenerie, während Mr. Miles und Liff
Hyatt auf das Haus zugingen. Sie sprachen ein paar Minuten mit dem Mann an der
Tür, dann kam Mr. Miles zurück. Als er näher kam, sah Charity, daß sein glattes
rosiges Gesicht einen erschrockenen, feierlichen Ausdruck angenommen hatte.
»Deine Mutter ist tot, Charity; du
kommst am besten mit mir mit«, sagte er.
Sie stieg aus und folgte ihm, und
Liff führte das Pferd weg. Während sie auf die Tür zuging, sagte sie sich:
»Hier wurde ich geboren ... hierher gehöre ich ...« Das hatte sie sich oft genug
gesagt, wenn sie über die sonnenbeschienenen Täler zum Berg hinauf blickte;
aber damals hatte es nichts bedeutet, und nun war es Wirklichkeit geworden. Mr. Miles
nahm sie behutsam beim Arm, und sie betraten den Raum, der offensichtlich der
einzige im ganzen Haus war. Es war so dunkel, daß sie gerade noch eine Gruppe
von einem Dutzend Leuten ausmachen konnte, die um einen Tisch, der aus über zwei
Fässer gelegten Brettern bestand, saßen oder lümmelten. Sie sahen gleichgültig
auf, als Mr. Miles und Charity hereinkamen, und eine heisere Frauenstimme
sagte: »Der Pfarrer ist da.« Aber niemand rührte sich.
Mr. Miles blieb stehen und sah sich
um; dann wandte er sich an den jungen Mann, der ihnen an der Tür entgegengekommen
war.
»Ist der Leichnam hier?« fragte er.
Statt zu antworten, drehte der junge Mann den Kopf der Gruppe zu. »Wo ist die
Kerze? Ich hab' dir doch gesagt, du sollst eine Kerze bringen«, sagte er in
unvermittelt barschem Ton zu einem Mädchen, das sich am Tisch rekelte. Sie gab
keine Antwort, aber ein Mann stand auf und holte aus einer Ecke eine Kerze, die
auf eine Flasche gesteckt war.
»Wie soll ich die anzünden? Der Ofen
ist aus«, sagte das Mädchen mürrisch. Mr. Miles suchte unter seiner dicken
Vermummung und zog eine Streichholzschachtel hervor. Er hielt ein Streichholz
an die Kerze, und gleich darauf fiel ein schwacher Lichtschein auf die blassen,
fiebrigen Gesichter, die aus dem Dunkel auftauchten wie die Köpfe von
Nachttieren.
»Mary ist da drüben«, sagte jemand;
und Mr. Miles nahm die Flasche und begab sich hinter den Tisch. Cha rity
folgte ihm, und sie standen vor einer Matratze, die in einer Ecke des Raums auf
dem Boden lag. Eine Frau lag darauf, aber sie sah nicht aus wie eine Tote; es
schien, als sei sie in einem trunkenen Schlaf auf ihr erbärmliches Bett
gefallen und man habe sie dort liegen lassen in ihren zerlumpten liederlichen
Kleidern. Ein Arm lag über ihren Kopf
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