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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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Stirn. »Ich will halt zu ihr«, wiederholte sie.
    Er legte seine Hand auf ihren Arm.
»Mein Kind, deine Mutter liegt im Sterben. Liff Hyatt ist heruntergekommen, um
mich zu holen ... Steig ein und fahr mit uns weiter.«
    Er half ihr auf den Sitz an seiner
Seite, Liff Hyatt stieg hinten auf, und sie fuhren weiter nach Hamblin.
Zunächst hatte Charity kaum begriffen, was Mr. Miles gesagt hatte; die
körperliche Erleichterung darüber, daß sie in einem Wagen saß und geborgen auf
ihrem Weg zum Berg war, verwischte den Eindruck seiner Worte. Aber als ihr
klarer um den Kopf wurde, begann sie zu begreifen. Sie wußte, daß die Leute vom
Berg nur äußerst selten mit den Talbewohnern verkehrten; sie hatte oft genug
sagen hören, daß niemand je hinaufgehe außer dem Pfarrer, und auch dann nur,
wenn jemand im Sterben liege. Und nun lag ihre eigene Mutter im Sterben ... und
sie wäre schließlich auf dem Berg genauso allein wie irgendwo anders auf der
Welt. Das Gefühl unentrinnbarer Einsamkeit war alles, was sie zunächst empfand;
dann überlegte sie, wie seltsam es sei, daß es gerade Mr. Miles war, der diesen
schweren Auftrag übernommen hatte. Er wirkte nicht im
mindesten wie jemand, der gern zum Berg hinaufging. Aber da saß er neben ihr,
lenkte das Pferd mit sicherer Hand und wandte ihr die freundlich funkelnden
Brillengläser zu, als sei an ihrem Zusammentreffen unter solchen Umständen
nichts Ungewöhnliches.
    Eine Weile war es ihr unmöglich zu
sprechen, und er schien das zu verstehen und machte keinen Versuch, sie zu
befragen. Aber dann spürte sie, wie ihr die Tränen kamen und über die
eingefallenen Wangen liefen; und auch er mußte es bemerkt haben, denn er legte
seine Hand auf ihre und sagte leise: »Willst du mir nicht sagen, was dich
bekümmert?«
    Sie schüttelte den Kopf, und er
drang nicht weiter in sie; aber nach einer Weile sagte er, immer noch in gedämpftem
Ton, damit Liff Hyatt nicht mithören konnte: »Charity, was weißt du über deine
Kindheit, bevor du nach North Dormer kamst?«
    Sie sammelte sich und antwortete:
»Nur das, was ich Mr. Royall einmal hab' sagen hören. Er sagte, er hat mich
heruntergeholt, weil mein Vater ins Gefängnis mußte.«
    »Und bist du jemals da oben
gewesen?«
    »Nie.«
    Mr. Miles verstummte wieder, dann
sagte er: »Ich freue mich, daß du jetzt mit mir kommst. Vielleicht treffen wir
deine Mutter noch lebend an, und sie begreift vielleicht, daß du gekommen
bist.«
    Sie waren in Hamblin angelangt, wo
nach dem Schneegestöber weiße Flecken auf dem struppigen Gras am Straßenrand und in den
Winkeln der nach Norden gerichteten Dächer lagen. Es war ein ärmliches,
trostloses Dorf am Fuße der Granitflanke des Berges, und kaum hatten sie es
hinter sich gelassen, ging es bergan. Die Straße war steil und voller Furchen,
und das Pferd fiel in einen langsamen Schritt, während es höher und höher
hinaufging und die Welt unter ihnen zu großen gesprenkelten Flächen von
Wäldern und Feldern und stürmischen dunkelblauen Fernen schrumpfte.
    Charity hatte oft von diesem
Aufstieg auf den Berg geträumt, aber sie hatte nicht gewußt, daß man einen so
weiten Blick hätte, und der Anblick dieser fremden Landschaften, die sich nach
allen Seiten erstreckten, verlieh ihr ein ganz neues Gefühl von Harneys Ferne.
Sie wußte, daß er sich unzählige Meilen jenseits der letzten Hügelkette befand,
die die äußerste Grenze der Welt zu sein schien, und sie fragte sich, wie sie
je davon hatte träumen können, nach New York zu gehen, um ihn dort zu suchen ...
    Je weiter es bergan ging, desto öder
wurde die Landschaft, und sie fuhren über Felder mit fahlem Berggras, das
durch lange Monate unter dem Schnee gebleicht war. In den Mulden zitterten ein
paar weiße Birken, oder eine Bergesche entzündete ihre purpurroten Garben,
aber die granitenen Felsvorsprünge verdunkelten nur ein paar kümmerliche
Kiefern. Der Wind wehte scharf über die ungeschützten Hänge; das Pferd kämpfte
mit gesenktem Kopf und zitternden Flanken dagegen an, und hin und wieder
schwankte der Wagen so, daß Charity sich an der Seite festhalten mußte.
    Mr. Miles hatte nichts mehr gesagt;
er schien zu verstehen, daß sie in Ruhe gelassen werden wollte. Nach einer
Weile gabelte sich der Weg, und er hielt das Pferd an, als sei er sich über die
Richtung nicht im klaren. Liff Hyatt streckte seinen Kopf von hinten vor und
rief gegen den Wind: »Links ...«, und sie bogen in einen Wald verkrüppelter
Kiefern ein und

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