EduAction: Wir machen Schule (German Edition)
nachhaltige und verantwortungsvolle Weiterentwicklung von Wirtschaft, Tech nik und Gesellschaft insgesamt, bei der Bildung. Oder genauer: Es sind heute Bildungsinnovationen, die den neuen Rahmenbedingungen und Anforderungen gerecht werden.
Welch weitreichende gesellschaftliche Folgen eine Bildungsinnovation haben kann, zeigt ein Blick nach Kolumbien, wo in ländlichen Regionen Schulentwicklungsprozesse initiiert wurden, die ungeahnte Nachahmung fanden.
Eine Bildungsrevolution ausgerechnet aus Kolumbien
Am Anfang stand ein Forschungsauftrag in den 1970er Jahren. Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus mehreren lateinamerikani schen Ländern sollte die Ursache für die seit etwa 1950 extrem beschleunigte Urbanisierung in allen Ländern Lateinamerikas herausfinden. Innerhalb von 30 Jahren hatte sich in manchen Regionen das Verhältnis von Land- zu Stadtbevölkerung von 90 zu 10 auf 10 zu 90 umgekehrt. Bei ungebremster Fortsetzung dieses Trends, so fürchtete man, würden diese Länder kollabieren.
Das Ergebnis der Untersuchung brachte eine große Überraschung: Das Problem lag in der Bildung. Je mehr Bildung die Men schen erwarben, desto mehr von ihnen zogen in die Städte. Irgend wann waren die ländlichen Regionen so ausgeblutet, dass auch die Schwächeren keine Perspektive mehr auf dem Land sahen und ebenfalls in die Städte – dort aber in die Slums – nachzogen.
Das Problem war, wie die Wissenschaftler herausfanden, weniger das absolute Maß an Bildung, sondern die Art von Bildung, die in den Schulen vermittelt wurde. Wie vermutlich in allen Ländern der Welt waren auch die kolumbianischen Schulbücher von Städtern geschrieben. Die Bücher reflektierten also in ihren Inhalten im Wesentlichen städtisch geprägte Denkweisen und Lebenssituationen. Traditionelles ländliches Wissen fand keinen Platz mehr im »modernen« Bildungssystem. Niemand hatte sich die Mühe gemacht nachzusehen, ob dieses traditionelle ländliche Wissen nicht wenigstens in Teilen auch weiterhin sinnvoll ist für die Schulung zur Lebenstauglichkeit auf dem Lande.
Die Forscher zogen aus ihren überraschenden Ergebnissen eine höchst ungewöhnliche Konsequenz: Nachdem niemand sich dazu berufen gefühlt hatte und wohl auch niemand mehr dazu in der Lage war, modernes Wissen auf ländliche Lebensbedarfe anzuwenden und dabei gleichzeitig traditionelles Wissen zu sichten und sinnvoll in ein zukunftsweisendes Gesamtkonzept von Bildung für die Landbevölkerung einzubeziehen, entschlossen sich diese Wissenschaftler, genau dies zu leisten. Entstanden ist ein Konzept, das ungewöhnlicher und innovativer kaum sein könnte. Bildung wurde hier derart radikal noch einmal von den Grundlagen her und in jede Facette hinein neu durchdacht, dass dies einer zweiten Erfindung von Bildung nahekommt.
Bei der gesamten Konzepterarbeitung war kein einziger Lehrer und auch kein Bildungsexperte beteiligt, die Gruppe bestand fast ausschließlich aus Naturwissenschaftlern. Ihnen war von vornherein klar, dass sie ihre Aufgabe nur dann gut bewältigen konnten, wenn sie mit den Menschen, für die sie neue Unterrichtsmethoden und -inhalte kreieren wollten, zusammenarbeiteten. Also luden sie Interessierte aus der Bevölkerung ein, mit ihnen zusammen ein neues Konzept zu entwickeln. Es begann ein Prozess des gegenseitigen Kennen- und Verstehenlernens. Insgesamt zwölf Jahre dauerte es, bis die Konzeptionsarbeit abgeschlossen werden konnte.
Um die Arbeitsergebnisse praktisch umsetzen zu können, wurde eine Stiftung namens FUNDAEC – »Stiftung für die Anwendung modernen Wissens auf ländliche Entwicklung« – gegründet. Deren Kernbereich ist die Ausbildung von Schülern vom 7. bis zum 12. Jahrgang mit dem Abschluss der staatlich anerkannten Hochschulreife. Gut 30 000 Abiturienten konnten dank FUNDAEC bis heute ausgebildet werden. Längst haben sehr viele private Gymnasien die FUNDAEC-Prinzipien, Curricula und Materialien übernommen, und FUNDAEC hat das Konzept auch auf den Vor- und Grundschulbereich sowie auf den Hochschulbereich bis zur Postgraduierten-Fortbildung ausgeweitet. Außerdem wird es von immer mehr Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens nachgefragt. Trotz bester Studienaussichten verbleiben mehr als 85 Prozent der FUNDAEC-Schüler in ihren ländlichen Regionen, werden oft bereits mit Erreichen der Volljährigkeit zu Bürgermeistern in ihren Dörfern gewählt und sehen ihre Mission in der Anwendung ihrer Kompetenzen dort, wofür sie ausgebildet
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