Effington 06 - Verborgene Verheissung
angenehm war. Doch vor allem hatte sie ein Zuhause und Menschen, die sie mochten. Selbst ihre Befürchtungen, die ihre Nichten betrafen, hatten sich bis jetzt nicht bewahrheitet. Whiting hatte sich nicht mehr gemeldet, und mit jedem Tag gelangte sie mehr zu der Überzeugung, dass Albert wieder einmal Unrecht gehabt hatte.
Sie hatte also wahrlich alles, was sie sich je gewünscht hatte, alles, was in ihrem Leben bisher gefehlt hatte. Und mehr, als sie je zu träumen gewagt hatte.
Sie hatte Marcus.
Sie zog die Knie unschicklich nach oben und umschlang sie mit ihren Armen. Was würde er tun, wenn er von ihrem Wahnsinn erfuhr? Würde er in der Öffentlichkeit die Fassade wahren, wie es der Herzog tat, und eine Scheidung verweigern? Würde er sein Leben lang eine hoffnungslose Liaison mit einer anderen Frau pflegen, die ihm schenken konnte, was seine Frau ihm nicht gab?
Nein, natürlich nicht. Sie seufzte tief. Marcus würde niemals in die Fußstapfen des Herzogs treten, weil Marcus' Frau nicht wirklich wahnsinnig war. Der Irrsinn, der Gwen befallen hatte, war nichts als Liebe.
Sie hatte sich in ihren Ehemann verliebt, und so etwas Beängstigendes hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Völlig mittellos zu sein, wegzulaufen und Gouvernante zu werden, nichts war so furchteinflößend gewesen.
Seit dem Moment, als er seine eigenen Gefühle eingestanden hatte, spürte sie eine furchtbare Last auf sich. Eine schreckliche Ahnung, dass etwas Schlimmes passieren würde, sobald sie zugäbe, dass sie ihr Versprechen an sich selbst gebrochen hatte: Dass sie sich verliebt hatte. Das Kartenhaus würde schwanken und schließlich zusammenfallen und sie mit in den Abgrund ziehen.
Sie ließ das Kinn auf den Knien ruhen und blickte in die Ferne. Sie hatte sich selbst nie für feige gehalten, im Gegenteil, sie fand es mutig, ihr Leben selbst in die Hand genommen zu haben. Doch in letzter Zeit hatte sie sich gefragt, ob wahre Tapferkeit nicht das war, die Panik, die wie ein Dämon in ihr wohnte, zu bekämpfen. Und ob nicht das, was sie immer für Furchtlosigkeit gehalten hatte, die schlimmste von allen Lügen war. Eine Lüge, mit der man sich selbst beruhigte und nie in Frage stellte.
Sie hatte über vieles nachgedacht, seit Marcus ihr seine Liebe gestanden hatte. Ihre Gefühle und Ansichten hatten sich verändert, beinahe unmerklich. Wahrscheinlich hatte dieser Prozess schon nach ihrer ersten Begegnung mit Marcus begonnen.
Es gab wahrlich Schlimmeres auf der Welt, als jemanden wie Marcus zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Sie hatte die Liebe immer für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gemacht, denn sie hatte ihrem Vater einen Sohn schenken wollen. Nun fragte sie sich, ob ihre Mutter dieses Risiko vielleicht gerne eingegangen war, für den Mann, den sie liebte. Und vielleicht auch für sich selbst. Es war Liebe, die ihre Schwester von ihrer Familie weggelockt hatte und schließlich zu ihrem Tod weit entfernt von der Heimat geführt hatte. Und doch fragte sich Gwen inzwischen, ob nicht das Glück, das ihre Schwester mit ihrem ungewöhnlichen Ehemann und den gemeinsamen Kindern erlebt hatte, das Opfer wert gewesen war.
So beängstigend Gwen ihre Gefühle für ihren Ehemann auch fand, was noch schlimmer wog, war die Erkenntnis, dass sie mit Freuden ihr Leben oder ihre gesellschaftliche Stellung oder ihr Vermögen für ihn aufgeben würde.
Das war es, was sie eigentlich so verunsicherte. Das tiefe Bewusstsein, dass sie sich verletzlicher als je zuvor machte, wenn sie seine Liebe annahm und ihn wieder liebte.
Vielleicht bedeutete wahrer Mut, seinem Herzen zu folgen.
Sie seufzte auf. Sie liebte ihn, und er liebte sie. Gleichgültig was um sie herum passierte, das war das Einzige, was zählte.
»Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde.« Marcus' Stimme erklang hinter ihr.
»Da haben wir es wieder.« Sie zwang sich zu einem unbeschwerten Tonfall. »Du spionierst mir nach.«
Er lachte und setzte sich neben sie auf den Boden. »Ich habe nichts dergleichen getan. Gut, ich habe mich dir ein wenig umständlich genähert, aber in völlig unschuldiger Absicht.«
»Stimmt das auch?«
»Naja, nicht ganz.« Er grinste schelmisch. »Ich liebe diesen Ausdruck empörter Belustigung, den du hast, wenn du überrascht wirst.«
»Empörte Belustigung?« Sie hob die Augenbrauen. »Was soll denn das heißen?«
»Ich vermute, dass man diesen Blick als Gouvernante einstudiert, und ich glaube nicht, dass ich ihn jemals
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