Egeland, Tom
abgehauen bin. Ich dachte, e s w ürde vier, vielleicht fünf Stunden dauern, vom Institut bis in die Zivilisation. Vier, fünf Stunden sollte man wohl ohne Wasser auskommen. Dachte ich. Wenn man das denken nennen kann.
In dem ausgetrockneten Graben liegt Schiefergestein und rostroter Sand in unregelmäßigen Schichten. Der Graben erstreckt sich in Richtung eines weit entfernten, violetten Bergrückens. Unmittelbar vor meinen Augen hüpft ein Insekt mit langen Beinen herum. Es sieht aus wie eine radioaktive Mutation, wie eine Kreuzung aus Käfer und Spinne. Dann wohnt hier draußen also doch jemand.
Die Sonne krallt sich in meinem Gesicht und meinen Händen f est und drückt ungeduldig gegen meine Schultern. Ihre Strahlen wiegen zentnerschwer. Wenn ich keinen so trockenen Mund hätte, würde ich auf einen Stein spucken, um zu sehen, ob das Wasser aufbrodelt und verdunstet.
Ich schiebe das Fahrrad zurück auf die Piste. Nach nur wenigen Minuten beginnen Flammen an meinem Rücken emporzulecken. Eine Weile versuche ich, zu gehen und das Fahrrad zu schieben. Über der Piste vibriert der Dunst. Das Herz hämmert. Schweiß rinnt mir von der Stirn in die Augen. Langsam verschwindet der Sauerstoff aus der Luft. Ich schnappe nach Luft und muss mich konzentrieren, nicht zu hyperventilieren. Durch einen Film aus Tränen halte ich nach einem Bach Ausschau, nach einer Quelle, nach etwas, was Schatten wirft. Die Hitze presst mich zusammen. Schwarze Punkte tauchen in meinem Blickfeld auf, das immer enger wird. Wie durch ein Fernglas, das man falsch herum hält. Doch noch hat mich der Durst nicht in den Wahnsinn getrieben. Dürfte ich doch nur noch einmal eine Luftspiegelung erleben, eine Fata Morgana, eine knallbunte Donald-Duck-Oase! Aber alles, was ich sehe, ist ein karges Meer aus Stein und Hitze und weit entfernten Bergen.
16
ICH KNIE AUF EINEM FELSEN am Rande einer Vertiefung, die einmal eine Quelle gewesen sein konnte, als ich zu mir komme. Das Fahrrad ist verschwunden.
Ich rappele mich auf, stehe schwankend da und suche nach der Piste, nach dem Fahrrad, nach etwas, an das ich meinen Blick heften kann. Die Zunge hängt am Gaumen fest und gibt trockene, klacke rn de Laute von sich. Mein Kopf explodiert. Mir ist schlecht. Ich übergebe mich, aber es kommt nichts hoch. Stöhnend sinke ich wieder auf die Knie. Und sehe nach oben. Die Sonne brennt weiß.
∗ ∗ ∗
D ann erlischt die Erinnerung.
VI Der Patient
1
SIE HABEN EINEN GLüHENDEN Bolzen durch meinen Schädel gejagt, mein Gesicht mit kaustischem Soda gestrichen und meine Hände in Krüge mit kochender Lava gesteckt.
Ich höre die Pulsschläge eines elektronischen Apparates. Das Geräusch beschwört die Erinnerungen an das Ticken der Wanduhr in dem verwunschenen Haus meiner Kindheit herauf. Hohl und regelmäßig. Der Atem der Zeit. Jede Stunde mit einem Gongschlag durchbrechend.
Seit Papas Beerdigung hat Mama die Uhr nicht mehr aufgezogen. Regungslos legte sie mit ihrem eigenen, stillen Tod Zeugnis ab von Papas Fortgang.
2
» BJøRN BELTø, SIE SIND ein harter Brocken! «
Das Licht ist gedämpft. Ich hole vorsichtig Luft, atme aus und wieder ein. In mir schwelen die Schmerzen.
Lillebjørn … du musst aufwachen … Bjørnemann … kleiner Prinz …
Ich liege in einem Raum mit einer unglaublich hohen Decke. Das Zimmer riecht alt. Die Wände sind mit Kalk verputzt. Ein Haarriss zieht sich über die Decke.
» Aufwachen! «, sagt die Stimme.
Ein Gestell mit einem hellgrünen Vorhang steht um das Bett herum.
Als ich die aufgesprungenen Lippen mit der Zungenspitze befeuchte, reißt die Haut vom Mundwinkel bis zur Schläfe. Mein Gesicht ist eine Maske aus Porzellan, die zu lange im Ofen gestanden hat und zu Staub zerfällt, wenn sie jemand mit der Fingerspitze berührt.
Lillebjørn, aufwachen …!
In meinen Unterarm haben sie eine Kanüle geschoben. Aus einem Infusionsbeutel über dem Bett führt ein Schlauch nach unten. Langsam sickert die Flüssigkeit durch die Plastikröhren in mein Blut. Ein Wahrheitsserum?, frage ich mich. Sodium Pentotha l , das die Bremsklötze des Geistes in Öl und Fett legt?
Die Stimme: » Sind Sie wach? «
Ich weiß nicht, ob ich wach bin oder ob ich träume. Vielleicht befinde ich mich in einem Krankenhaus. Es sieht aus, als hätten sie irgendein Zimmer mit medizinischer Ausrüstung voll gestopft. Um mich zu pflegen. Oder vielleicht, um mich zu täuschen.
Ich hebe meine bandagierten Hände an. Sie fühlen sich an wie zwei
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