Egeland, Tom
starrt still vor sich hin.
» Stellen Sie sich einmal vor, dass Jesus nicht an diesem Kreuz starb. «
Ein Teil meines Hirn erfasst, was er sagt. Ein anderer klam mert sich an die Sekunden davor und bekommt die unerwartete Wendung nicht richtig mit.
» Was? «, frage ich. Obschon ich verstanden habe, was er da gesagt hat.
Still schließt er die Tür hinter sich und überlässt mich den Fragen und der Nacht.
6
GIBT ES IRGENDWANN im Leben eines Menschen einen Wendepunkt –einen Augenblick im Dasein, in dem ein Geschehnis ein ganz besonderes Licht auf all das wirft, was einem bis dato widerfahren ist, und den weiteren Lebensweg, der vor einem liegt, hell erleuchtet?
Das Leben ist ein Kreis. Der Beginn des Lebens und sein Ende sind in einem Punkt miteinander verbunden, den die Religionen nach allen Regeln der Kunst ausnutzen.
Für die Mayas war die Zeit ein Kreis von Wiederholungen. Die Stoiker meinten, das Universum werde untergehen, doch ein neues werde sich aus dem alten erheben.
Ich finde darin einen gewissen Trost.
Aber für die Christen ist die Zeit eine gerade und unabwendbare Linie auf das Jüngste Gericht zu.
Aus einer kosmischen Perspektive können alle Recht haben.
Und in einem solchen unendlichen Zyklus kann es für einen armen, sonnenverbrannten Teufel mit aufgesprungenen Nagelbetten und einer abgelaufenen Monatskarte verdammt schwierig sein, seinen rechtmäßigen Platz zu finden.
Es gibt so viele Rätsel. Ich bin nicht der Richtige, all die Lösungen zu finden. Im Grunde ist es mir wohl auch egal.
7
DÄMMERUNG . SANFT SCHIEBEN sich die Ränder der Felder ineinander. Rechteckige gedämpfte Farben in einem Puzzle aus Ocker und Grün, Gelb und Grau. Die Hügel sind sanft, lang gezogen. Geduldig und voller Mühsal haben die Bauern die Landschaft gezähmt und Leben in die Erde gehaucht. Doch die Fruchtbarkeit hat etwas Trotziges, Widerstrebendes. Die Landschaft hat gekämpft, hat sich gewehrt. Wie Geschwulste brechen Felsen durch die Ackerflächen, scharfe Steilwände falten die Erde zur Seite, und steinige Wunden überziehen die Felder.
Ich betrachte die Landschaft durch ein Fenster. Ein Fenster in einer Burg. Einer mittelalterlichen Burg aus rotgrauem Stein. Manch einer hätte vielleicht von einem Schloss gesprochen. Es ist eine Fensternische, in der ich sitzen kann.
Die Burg liegt auf einem bewachsenen Höhenzug. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich tippe auf die Toskana. Oder die spanische Hochebene? Oder –als Alternative –auf ein Asyl, in dem alles, was geschieht, alles, was ich sehe und auffasse, in meinem Kopf geschieht. Diese Alternative erscheint mir in diesem Augenblick als die wahrscheinlichste. Die verlockendste.
8
» Wo BIN ICH? «
MacMullin erwidert meine Frage mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. Er steht in der Tür. Noch immer sitze ich in der Fensternische. Ich habe hier jetzt ein paar Stunde n v erbracht, doch die Landschaft hat nichts von ihrem Geheimnis preisgegeben.
» Sie konnten aufstehen, sehe ich? Es freut mich, dass Sie auf dem Wege der Besserung sind. «
» Danke. Wo bin ich? «
» In Rennes-le-Château. «
Seine Worte treffen mich wie ein Schlag.
Rennes-le-Château.
Meine Damen und Herren. Die Vorstellung kann bald beginnen, das Bühnenbild wird noch ein wenig verschoben, in den Kulissen warten die Akteure, doch unser verehrter Autor muss das Stück erst noch fertig schreiben.
MacMullin schließt die Tür und kommt ins Zimmer. » In den östlichen Pyrenäen. In Südfrankreich. «
» Ich weiß, wo das ist «, sage ich leise. » Das Dorf dieses Pfarrers. «
» Sie haben ein gutes Gedächtnis. «
» Was tue ich hier? «
» Sie wurden hierher gebracht. «
» Wie? Warum? «
» In meinem Privatflugzeug. «
» Daran kann ich mich nicht erinnern. «
» Sie waren bewusstlos. «
» Wie lange? «
» Eine gewisse Zeit. Man sah sich gezwungen, Ihnen ein Betäubungsmittel und etwas Beruhigendes zu geben. Nachdem wir Sie in der Wüste gefunden hatten. Sie waren in einem üblen Zustand. «
» Ich wurde also ruhig gestellt. Wieder. «
» Wir hatten keine andere Wahl. «
» Eine schlechte Angewohnheit haben Sie da! «
» Zu Ihrem eigenen Besten. «
» Warum wurde ich hierher gebracht? «
» Das Krankenzimmer des Instituts ist nicht gerade empfehlenswert. «
» Aber warum hierher? «
» Wir hätten Sie auch in eine Privatklinik in der nächsten Großstadt bringen können. Oder nach London. Oder Oslo, meinetwegen. Aber wir haben Sie nun einmal hierher
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