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Egeland, Tom

Titel: Egeland, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frevel
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wirklich auf Vernunft basiert.
    » Ich habe ihn nicht mehr «, lüge ich.
    » Nicht? «
    » Er wurde gestohlen «, erzähle ich. » Der Schrein wurde heute bei einem Einbruch in meine Wohnung gestohlen. «
    Dr. Rutherford hätte sich beinahe verplappert. Beinahe sagt er, sie hätten ihn dort nicht gefunden. Er korrigiert sich. Ich kann ihm anhören, dass ich in ihm einen Zweifel gesät habe: Was, wenn die Diebe, die er engagiert hat, den Schrein tatsächlich gestohlen haben? Um ihn zu betrügen? Wie um sich zu vergewissern, fragt er: » Sind Sie sicher, Herr Beltø? «
    Ja, doch, ich bin quite sure. Er zögert. Meine Lüge hat ihn verunsichert.
    » Sind Sie vielleicht an einem Tauschhandel interessiert? «, fragt er dann.
    » Was haben Sie, das mich interessieren könnte? «
    » Ich kann Ihnen etwas über die Umstände des Todes Ihres Vaters sagen. «
    Plötzlich bleibt die Zeit stehen. Kaleidoskopische Bilder jagen durch meinen Kopf: der Berg, das Seil, die Geröllhalde, das Blut. Ich befinde mich in einem Vakuum, in dem die Zeit seit zwanzig Jahren stillsteht.
    Leer starre ich vor mich hin. Erst viele Jahre nach Papas Tod wurde mir klar, wie schlecht ich ihn eigentlich gekannt hatte. Er ist ein flüchtiges Bild in meiner Erinnerung, ein nachdenklicher Mann, der mich nur selten berührte oder mich in seine Welt hineinließ. Papa schloss immer die Türen seines Daseins, zog die Gardinen vor. Einige wenige Male sah ich die Wut in seinen Augen aufkeimen, aber in der Regel war er ein Mann, der aus dem Büro nach Hause kam oder von einer Ausgrabung, um in dem Kellerzimmer zu verschwinden, in dem er an einem wissenschaftlichen Werk schrieb, über das er nur ungern sprach und das ich nie zu Gesicht bekam.
    Wenn ich Papa vor mir sehe, sehe ich ihn mit den Augen des Kindes.
    Mama wollte nie über ihn sprechen. Der Professor fühlt sich dann so unwohl. Als könne er den Gedanken nicht ertragen, dass seine kleine liebe Frau einmal einen anderen tief und hemmungslos geliebt hatte. Er muss damit leben, dass er als Nummer zwei vor dem großen Kuchen gestanden hat.
    Aber dieser Gedanke verwundert mich immer wieder: Mama ist jetzt schon doppelt so lange die Frau des Professors wie sie Papas Frau war.
    Ich vermisse Papa, doch manchmal frage ich mich, ob ein Sohn jemals seinen Vater sehen kann, ohne daran zu denken, dass zwischen dessen Beinen der Hoden hängt, in dem man selbst einmal ein eifrig wuselndes Spermium war, dass zwischen seinen Beinen das Glied hängt, das anschwillt und die Mutter stoßweise mit Wollust erfüllt. Manchmal habe ich nicht alle Tassen im Schrank. Könnte mir jemand das Schälchen mit den rosa Tabletten bringen?
    Vielleicht erkenne ich mich selbst in Papa wieder. Das ist nicht so unnatürlich. Ich habe nie zu ihm aufgesehen. Manchmal quält mich das. Wenn ich von Vätern lese, die ihre Söhne geformt haben, frage ich mich, was Papa in mir zurückgelassen hat. Die Schwermut? Dass ich wie er Archäologe wurde? Ein Zufall. Ein Sog zu den deutenden Wissenschaften, einem Fach, das zu meinem suchenden, introvertierten Charakter passt. Wenn ich mich in sein Arbeitszimmer hinunterwagte, sah er manchmal von seinen Papieren oder Artefakten auf, lächelte hohl und zeigte mir ein Webgewicht oder eine Flintspitze, über die er anscheinend alles wusste. Ich kannte den Unterschied zwischen qualifizierten Annahmen und empirischen Deutungen nicht, aber ich verstand, dass Papa zurück in die Zeit schauen konnte.
    Sein plötzliches Interesse an der Kletterei widersprach sei ner ganzen Art. Er war ein vorsichtiger Mensch. Genau wie ich. Ein bisschen ängstlich. Es war Trygve Arntzen, der Papa an die Felswände gelockt hat. Mit Absicht, wenn man mich fragt. Vielleicht kann ich ihm deshalb nie verzeihen, dass er den Absturz nicht hatte verhindern können. Wenn er es denn überhaupt versucht hat. Er war auffallend rasch zur Stelle, um Papas pfleglich gebrauchte Witwe zu übernehmen.
    Benommen bin ich stehen geblieben, in einem Fenster der Zeit, den Telefonhörer in der Hand. Dr. Rutherford fragt, ob ich noch da bin.
    » Was wissen Sie über meinen Vater? «, frage ich schnell.
    » Darauf können wir später zurückkommen. Wenn wir den Schrein haben. «
    » Was meinen Sie mit den Umständen seines Todes? «
    » Noch einmal … wenn wir den Schrein haben. «
    » Wir werden sehen. « Ich räuspere mich. Verspreche ihm, das Angebot zu überdenken. Zögernd bedankt er sich für die Aufmerksamkeit und legt auf.
    Ich haste auf den Flur,

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