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Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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Wissenschaft und Gesellschaft wurden verrückt nach Alchemie, nach einer Metaphysik, die Physik machen konnte. »Nachdem Rutherford und Soddy ihre Ergebnisse 1902 publiziert hatten, veränderten sich die Einstellungen dramatisch. Selbst religiöse Skeptiker begannen sich zu fragen, ob nicht die Alchemisten etwas über das Wesen der Materie verstanden hätten, was die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts übersehen hatten. Könnte Radium der legendäre Stein der Weisen sein?« 204
    Es begann, was Morrison einen akademischen »Gold Rush« nennt, und tauscht man nur ein paar Worte aus, dann liest sich der Hype wie eine Parodie auf jene Vordenker der Finanzmärkte, die im 21. Jahrhundert mithilfe der Computer und Algorithmen aus nichts Gold machen wollten.
    Plötzlich mischten sich die Erkenntnisse der modernen Chemie und Physik mit denen der Esoterik, zuweilen in der gleichen Person. Für unseren Zusammenhang entscheidend ist die Vorstellung, dass man in der »Transmutation« eine »Energie« entdeckt zu haben glaubte, die, wie es in einem Bericht über die Sitzungen der Chemical Society hieß, direkt zur Urmaterie selbst führte und damit zur Möglichkeit, »alle Energie zur Herstellung der Welt« zur Verfügung zu haben.
    Es ist nicht ohne bizarren Reiz, in diesem von Doppelgängern wimmelnden Rundgang zu erleben, wie einem an jeder Tür ein Wiedergänger begegnet. In seinem Buch »Die Interpretation des Radiums« entdeckt Soddy zusammen mit der neuen Technolo gie nämlich auch schon das »Ende der Arbeit«, die im Drehbuch eigentlich erst 2000 ff. vorgesehen ist:
    »Eine Rasse, die die Materie transmutieren kann, hätte wenig Grund, ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen. Solch eine Rasse könnte die Wüsten verwandeln, die Polkappen schmel zen und aus allem einen lächelnden Garten Eden machen.« 205
    Fast dreißig Jahre lang stand die öffentliche Fantasie im Zeichen der alchemistischen Umwandlung. Morrison zeigt, wie Wissenschaft, Medien und Science-Fiction-Literatur den Traum des Überflusses träumen. Der kann eine Vision unerschöpflicher Energiereserven sein – die Reise über den ganzen Ozean mit der Energie eines Reagenzglases radioaktiver Substanz – oder die tatsächliche Verwandlung von Rohstoff in Gold.
    Als Nächstes infizierte die Alchemie die Ökonomie. Was würde geschehen, wenn Gold, dessen Wert sich der Knappheit verdankt, im Überfluss vorhanden wäre? 1922 fühlte sich die »New York Times« verpflichtet, auf ihrer Titelseite den Bericht einer amerikanischen Bundesbehörde zu veröffentlichen:
    »Das neu belebte Interesse an Alchemie und die entsprechen den Hinweise, dass künstliches Gold so reichlich vorhanden wäre, dass das natürliche Metall seinen Wert für die Währung der USA verlieren würde, veranlasst die United States Geological Survey zu einer Erklärung, wonach es für Chemiker keinen Grund zur Hoffnung und für Ökonomen keinen Grund zur Befürchtung gibt, dass das wertvolle Material im Laboratorium produziert werden kann.«
    Als in den Dreißigerjahren die (später widerlegte) Nachricht verbreitet wurde, dass es dem Deutschen Adolf Miethe gelungen sei, Gold herzustellen, titelte die »New York Times«: »Künstliches Gold könnte die Welt auseinanderreißen/Kommerzielle Herstellung würde Chaos in den Finanzmärkten bedeuten.« 206
    Was wie eine Fußnote der Geschichte klingt, ist hier erwähnenswert, weil es der Bewusstseinsschärfung für »unbeabsichtigte Konsequenzen« des Haupttextes dient. Die Geschichte nicht einkalkulierter Resultate bei Technologien, die die Welt eigentlich von ihren Mängeln heilen sollen, ist in einer Welt der Kalkulation so wichtig, wie ein Beipackzettel unerwünschte Nebenwirkungen aufzählt.
    Einen solchen hatte der Schriftsteller H. G. Wells beschrieben. Er war von Soddys Entdeckung und mehr noch von Soddys alchemistischen Thesen fasziniert. Nicht nur die Transmutation in Gold hatte es ihm angetan, sondern die Aussicht auf grenzenlose Energie.
    1913 veröffentlichte er seinen Roman »The World Set Free«, den er Soddy widmete. Das Buch, ein erstaunlich schlecht ge schriebener, aber auch erstaunlich prognostischer Roman, erzählt die Geschichte des ersten Atomkriegs, der in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts stattfinden würde. Die Metropolen vernichten sich gegenseitig, spontan durch die unablässigen Explosionen entstandenes Gold zerstört die Ökonomie, und im Angesicht einer Waffe, die keine Gewinner, sondern nur noch

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