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Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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nur medizinische, sondern auch kulturelle Pandemien haben fast immer einen genau lokalisierbaren Geburtsort. So wurde die magische Wissenschaft, die die Naturmagie der Merlin-Welten ablöste und ihrerseits in das wissenschaftliche Zeitalter mutierte, durch eine der ersten großen Open-Source-Bewegungen der Geschichte ausgelöst.
    Im 13. Jahrhundert kamen aus Katalonien und Mallorca die ins Lateinische übersetzten Schriften islamischer Gelehrter zu Astrologie, Wahrsagekunst und vor allem zur Alchemie nach Nordeuropa. (Allein in England haben sich 3 500 Texte erhalten.)
    Auch die geistige Infektion des 21. Jahrhunderts hat zwei genau lokalisierbare Orte: die San Francisco Bay und die Südspitze einer kleinen Insel in New York. Das Silicon Valley und die Wall Street.
    Viele Menschen mühen sich ihr Leben lang ab und verstehen einfach nicht, warum es nicht funktioniert. Warum für sie nicht gilt, was man allen versprochen hat. Sie erleben sich als ein Experiment, das permanent missglückt. Die Verwandlung von Blei in Gold gelingt nicht, und die das Gegenteil behaupten, entpuppen sich als Scharlatane. Dabei halten sich die Menschen penibel an Vorschriften und Gebrauchsanweisungen, lernen und studieren, informieren sich, kämpfen am Arbeitsplatz, vernetzen sich mit Freunden, gehen an die richtigen Orte, aber früher oder später müssen die meisten dem Fehlschlag des gesamten Unternehmens ins Auge sehen – spätesten, wenn im »Ruhestand« immer mehr der im Lebenszyklus erworbenen Ansprüche zu nichts zerfallen.
    Das Problem ist, das die meisten Menschen die Codes der Informationsgesellschaft so wie die der Alchemisten als Metaphern gelesen haben. Sie haben nicht verstanden, dass es ernst wird, wenn Information sich nicht mehr von Sachen unterscheidet und gemessen und berechnet werden kann. Information ist, in den Worten von Theodore Roszak, ein Fetisch geworden.
    Solange man für den Misserfolg äußere Mächte verantwortlich machen konnte – Götter, Könige oder Regierungen –, entstanden aus dieser Enttäuschung regelmäßig Revolten und Revolutionen. Der neue Kapitalismus aber hat es geschafft, die Verantwortung auf das Ich der Menschen abzuwälzen.
    So haben beispielsweise immer mehr Menschen das Gefühl, ein Leben unterhalb ihrer Möglichkeiten zu leben, während der Apparat zur Durchsetzung seiner Ansprüche behauptet, »wir« hätten »über unsere Verhältnisse gelebt«.
    Das ist, wie man weiß, nicht als ökonomisches Argument gemeint gewesen, weil dafür die Frage, »wer« über die Verhältnisse gelebt hätte, beantwortet werden müsste. Es ist ein rein moralisches Argument, und es ist, wie man an der beliebtesten Formulierung von den »Sünden« sieht, auch religiös gemeint: Es funktioniert nicht, weil ihr sündigt.
    Die beklagten Mängel an Flexibilität, Disziplin und Selbstverantwortung sind keine systemischen, sondern Charakterfehler und lassen sich eliminieren. Nur so ist zu erklären, wieso die Demontage des Sozialstaats sogar bei jenen Zustimmung fand, die kurz davor standen, seiner bedürftig zu werden. Das amerikanische Beispiel hatte in den Neunzigerjahren, wie Thomas Frank zeigt, den moralischen Rollentausch ganzer Klassen vorgemacht.
    »Die Reichen, die frühere Freizeitgesellschaft«, schrieb »Wired«, »werden die neuen Überarbeiteten. Und die, die man arbeitende Klasse nannte, werden die neue Freizeit-Klasse.«
    Nur der »Würdige« konnte im alchemistischen Labor hoffen, die Transmutation, die Verwandlung des Stoffes in Gold oder Geist, zu meistern. Wer überhaupt eine Chance haben wollte, musste gesund sein, geduldig, intelligent, fromm und diszipliniert. 213 Er musste in der Lage sein, jede Information aufzunehmen, aber durfte in der Informationsflut nicht untergehen. Wer »von einer Meinung zur nächsten springt und von einem Wunsch zum anderen … ist so abgelenkt, dass er nichts zu Ende bringen wird«. Man musste kreativ und ständig auf die Arbeit fokussiert sein, »sodass man nicht mit einer Arbeit anfängt und dann wieder mit einer anderen«. 214
    Selbst wenn man das alles beherzigte, war ohne den lieben Gott alle Mühe umsonst. Das Problem war nur, dass der ein ziemlich unberechenbarer Chef ist, der »seine Gerechtigkeit und Güte auf jeden erstreckt, aber auch jedermann wieder entzieht, ganz wie er will«.
    Man soll deshalb nicht enttäuscht sein, wenn am Ende kein Gold entsteht: Die entscheidende Doktrin lautete, dass es nicht so wichtig ist, das Metall zu verwandeln, wie die

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