Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
gekannt. Wer aus Blei Gold machen wollte, benötigte, so sagten es die Zauberbücher, neben bestimmten Essenzen und Formeln auch Bildschirme, »Projektionen«, die nach streng vorgeschriebenen Symbolen den magischen Code kalkulierten. Ein Bildschirm, der die Verwandlung sichtbar machte: die innere Einbildungskraft, die legendäre »Imaginatio«, mit der die Kräfte der Seele ausgebeutet wurden.
Träte jetzt Gabriel Clauder, der Leibarzt des Kurfürsten von Sachsen, aus seinem 17. Jahrhundert durch die Tür des 21. Jahrhunderts, er würde zufrieden feststellen, dass die Alchemie erstaunliche Fort schritte gemacht hat. Er würde erkennen, dass Ge ld und Macht heute dort entstehen, wo man die menschliche Seele nach festen Regeln in einzelne Rezepte zerlegt und wieder neu zusammensetzt. In den Algorithmen, die heute über unser Dasein entscheiden, sähe er nichts anderes als verbesserte Versionen seiner alchemistischen Rezepte.
Clauders Schrift »Die universelle Tinktur oder der Stein des Weisen« ist nämlich nichts anderes als der Code dafür, wie man Schritt für Schritt etwas aus nichts macht. Der »Stein der Weisen« war kein Stein, sondern eine Flüssigkeit, reine Liquidität. Um die zu erreichen, braucht der Magier den »Geist des Universums«, der sich allerdings unpraktischerweise »volatil, schwebend und unsichtbar« in der Luft befindet. 212
Um ihn zu kondensieren, soll man, wenn »es für Wochen nicht geregnet hat«, im April oder Mai zu nachmitternächtlicher Stunde ein feuchtes Stück Erde aus einem Acker schaufeln, mithilfe eines Brennglases drei Stunden den Sonnenstrahlen aussetzen und dabei das austretende Wasser mit einem Leinentuch auffangen, das anschließend über einem Glasbehälter ausgewrungen werden muss. Und nur wenige Tropfen dieser Tinktur, vorausgesetzt, sie wird von einem vertrauenswürdigen User benutzt, verwandeln ein paar Unzen Quecksilber in pures Gold.
Wer heute nach Mitternacht eine E-Mail schreibt, in der die Wörter Erde, Schaufel, ausgraben, Brennglas, Quecksilber, Leinen und Gold auftauchen, dem wird Google vielleicht nur Gartengeräte anbieten, oder die Homeland Security wird ihn bei der Einreise in die USA verhaften, aber die Transmutation von nichts in Geld oder Macht ist gelungen.
Scipione Chiaramonti, ein Mathematiker, der an Hexen glaubte und Galilei am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätte, war lange vor Google, Facebook und Apple überzeugt, dass man Geist, Charakter und Absichten eines Menschen durch Stimme, Bewegungsablauf, Wetter, Ort und Syntax bestimmen und vorhersagen könne.
Die Entdeckung amerikanischer Forscher, dass man nur auf grund der automatisierten Daten, die ein Handy über Bewe gungsmuster und Ort aufzeichnet, eine beginnende Grippe oder aufgrund völlig zusammenhangloser E-Mails eine erst in einem Jahr stattfindende Kündigung vorhersagen kann, wäre ihm wie eine logische Folge seiner Thesen vorgekommen.
Ein Mann namens J. L. Hannemann versuchte 1670 die in Vergessenheit geratene Idee einer »kollektiven Welt-Seele« zu propagieren. Die kollektive Psyche war für ihn eine Simulation der natürlichen Welt. Unsere Entdeckung der »vernetzten Gesellschaft« hätte ihm wahrscheinlich nur ein müdes Gähnen entlockt. Im großen Welt-Organismus war alles vernetzt, und alles kommunizierte miteinander sogar über Kontinente hinweg: Verfault der Arm eines Menschen, mit dessen Gewebe man die Nase eines anderen Menschen korrigiert hat, dann verfault auch die Nase des anderen Menschen, selbst wenn er ganz woanders ist.
Zahlreich sind die Traktate über Zahlenmystik, Krypotgrafie, Gematrie und Numerologie, unüberschaubar die Codes, mit denen die abseitigen Muster menschlicher Verhaltenssteuerung berechnet und vorhergesagt werden sollten, Stoffe manipuliert und programmiert wurden, viele von ihnen ersonnen und verbreitet von einigen der besten Mathematiker ihrer Zeit. Denn die Grenze verlief nicht zwischen Zauberern und Wissenschaftlern, sondern zwischen Arealen ein und desselben Gehirns.
Eine Millionen Worte hat man im Nachlass Sir Isaac Newtons gefunden, des größten mathematischen Genies seiner Zeit, und sie alle sind, wie einer seiner Biografen lapidar feststellt, »ohne substanziellen Wert«. Sie wurden »alle in dem gleichen fünfundzwanzigjährigen Zeitraum geschrieben, in dem Newton seine mathematischen Studien betrieb, und wären genauso vernünftig wie diese, wenn ihr gesamter Inhalt und ihre einzige Absicht nicht Magie wäre«.
Nicht
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