Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Sauvage, der fast über eine abgestorbene Schlingpflanze gestolpert wäre. »Und so sieht sie auch aus. Aber vor fünfzehn Jahren stand sie noch nicht hier. Finden Sie das nicht kurios?«
Als sie näher kamen, sahen sie, dass nicht nur der Turm eingestürzt war, sondern auch die vordere Wand der Kirche, sodass das ganze Gebäude offen stand wie ein Karrenschuppen. Drinnen gab es nichts als verrottende Kirchenbänke, einen Altar und dahinter ein Buntglasfenster, das im Mondlicht keine seiner Farben preisgab. »Haben Sie je eine Menschenseele diese Kirche betreten oder verlassen sehen?«, fragte Sauvage.
»Ich habe doch gesagt, ich komme nicht oft nach Vignole. Aber ich kann Ihnen versichern, niemand nutzt diesen Ort.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
Der Gondoliere streckte den Arm aus. »Fledermäuse.« Und tatsächlich konnte Sauvage die Schatten der kleinen Tiere zu Dutzenden kopfüber von den Dachbalken hängen sehen; einige regten sich leise und schaukelten in der Finsternis. Der Stein unter ihren Füßen war von ihrem Kot verschorft. »Ratten lassen sich von Menschen nicht stören. Katzen und Vögel und Spinnen genauso wenig. Aber Fledermäuse sind sehr empfindlich.«
»Mal sehen, ob Sie recht haben«, sagte Sauvage und drang tiefer in die Kirche ein. Er sprach lauter als sonst und lauschte auf ein Echo.
»Wir gehen lieber wieder. Hier sind viele Menschen gestorben.«
»Ich habe keine Angst vor Gespenstern.«
»Wir sollten zurück zum Boot gehen.«
»Wenn ich mich irre, werden wir das tun.«
»Kehren Sie um.«
»Noch nicht.«
»Ich hab gesagt, du sollst umkehren, Franzmann.«
»Oder was?«, sagte Sauvage. »Willst du mich mit deinem Schnabel totpicken?«
Und dann lag Sauvage auf dem Boden, und der Gondoliere kniete auf seinem Rücken und hielt ihm irgendeine Art Klinge an den Hals. »De Gorge hat dich geschickt, stimmt’s?«, rief der Gondoliere.
»Nein! De Gorge ist mein Feind!«
»Wie viele Leute hat er noch in Venedig? Raus damit, sonst bringe ich dich um.«
»Ich heiße Bernard Sauvage, ich bin der Sohn von Nicholas Sauvage.«
»Ich glaube, ich bringe dich einfach trotzdem um.«
Aber da schien die Luft selbst in Bewegung zu geraten, rascher, als Sauvage es fassen konnte, wie bei einem Hütchenspiel, und gleichzeitig hörte man überall Zahnräder rattern und Flaschenzüge knarren, und dann war da vor ihm, wo eben noch Dunkel und Leere gewesen waren, plötzlich eine hell erleuchtete offene Tür. Hätte er in diesem Augenblick die Möglichkeit gehabt, einzuatmen (und er hatte sie nicht), ihm hätte trotzdem der Atem gestockt.
»Lass ihn, Melchiorre.«
Der Befehl war nicht viel mehr als ein Krächzen. Aber der Gondoliere tat wie geheißen. Sauvage stand auf und rieb sich die Prellung an der Schulter. Wahrscheinlich hatte nur seine billige Bauta ihn beim Sturz vor einem Nasenbeinbruch geschützt.
Der Raum hinter der Tür war nur von Kerzen erleuchtet, und er war viel größer, als er hätte sein dürfen. In der Mitte stand ein Bett, und auf dem Bett lag ein maskierter Mann. Das hölzerne Bettgestell hatte ein Scharnier in der Mitte, sodass der Mann sich darin aufsetzen konnte, und vor ihm hing an einem komplizierten Krangerüst ein schräg gestellter Zeichentisch in der Luft, sodass er arbeiten konnte, ohne die Lage zu wechseln. An den Wänden standen Werkbänke voller Werkzeuge, Pinsel, Farbe, Zwirn, Stoff und Eisen.
»Komm rein, mein Junge, und setz dich«, sagte der Mann im Bett und deutete auf einen Hocker. Beim Eintreten wollte Sauvage instinktiv die Bauta abnehmen, aus Respekt, aber der Mann gebot ihm Einhalt. »Nein, behalte die Maske auf«, sagte er. »Es ist Karneval. Ich habe die Absicht, unter meiner zu sterben.«
»Das Théâtre des Encornets«, sagte Sauvage im Nähertreten leise.
»Du hast es erkannt?«
»Natürlich. Bis zu seiner Zerstörung habe ich in Paris gelebt.«
Die Maske des Mannes war eine vergoldete Nachbildung der herrlichen Fassade des Opernhauses, wie sie bis zum Jahr 1679 existiert hatte. Die Detailgenauigkeit war erstaunlich, hundertfach auserlesener als bei allen Puppenstuben oder Architektur-Ornamenten, die Sauvage je gesehen hatte, sodass man noch die kleinste Brustwarze der Nackten sehen konnte, die an den Marmorfriesen hingen; und doch war die Maske keine reine Abbildung, denn die Fassade war kunstvoll zu einem menschlichen Gesicht gebogen worden; und zwar nicht zu einem beliebigen Gesicht, sondern zu dem eines Mannes, der das Haus von
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