Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
zupfte Fäden aus dem Saum des Tischtuchs, zählte die Zeichensetzungsfehler auf der Speisekarte, sah den Kellnern zu und überlegte, welche wohl Adele gefickt hatten und welche Marlene. Schließlich gab er wie betäubt die Hoffnung auf und zahlte die Flasche Wein, die er getrunken hatte. Als er sich den Mantel anzog, bemerkte er drei Kellner, die an der Tür standen und schwatzten. Er konnte nichts anderes denken, als dass diese Wichser offenbar jede Frau haben konnten, die sie wollten, ohne sich auch nur im Mindesten um sie zu bemühen. Unwillkürlich steuerte er auf sie zu und griff sich auf dem Weg eine Gabel von einem freien Tisch. Er wusste nicht, was er tun würde.
»Entschuldigung«, sagte er.
»Sie wünschen, mein Herr?«, sagte einer der Kellner.
Jede Frau, die sie wollten, dachte er. Diese Wichser.
Es gab eine lange Pause.
»Suchen Sie noch Kellner?«, sagte Loeser schließlich.
»Ich fürchte, nein, mein Herr.«
»Verstehe. Gut. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.«
Draußen winkte Loeser nach einem Taxi zum Wohnsitz der Hitlers in Hochbegraben. Uneingeladen vor Adeles Tür zu erscheinen, würde der letzte Stein auf dem Grab seiner Würde sein, aber er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. Das Hausmädchen der Hitlers öffnete und erkannte ihn aus jener Zeit wieder, als er noch Adeles Nachhilfelehrer gewesen war. Er merkte, wie sehr er diese langweiligen, verschwenderischen Nachmittage im Wohnzimmer der Hitlers vermisste, und ihm fiel eine Strategie ein, die Achleitner einmal für das neueröffnete Allientheater entworfen hatte:
Bittere Satiren auf die Sorte Mensch inszenieren, die in den Villen von Hochbegraben wohnt.
Viele Karten an die Sorte Mensch verkaufen, die in den Villen von Hochbegraben wohnt.
Genug Geld verdienen, um in eine Villa in Hochbegraben zu ziehen.
»Herr Loeser!«, sagte das Hausmädchen. »So eine schöne Überraschung!«
»Bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ob das Fräulein Hitler wohl zu Hause ist?«
»Ich fürchte, nein, Herr Loeser.«
»Wissen Sie, wo sie ist?«, sagte er. Zum ersten Mal fragte er sich, was Adeles Eltern wohl glaubten, wo sie sich herumtrieb, wenn sie Nacht für Nacht nicht heimkam. In der Tanzschule?
»Sie ist vor ein paar Stunden zum Bahnhof gefahren.«
»Zum Bahnhof?«
»Jawohl, Herr Loeser. Das Fräulein Hitler ist nach Paris gereist.«
»Nach Paris? Für wie lange?«
»Das weiß ich nicht, Herr Loeser, aber sie hat recht viele Koffer gepackt, die wir ihr nachsenden sollen.«
»Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen? Oder etwas in der Art?«
Das Hausmädchen wirkte peinlich berührt. »Nicht dass ich wüsste, Herr Loeser.«
»Verstehe. Gut. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.«
Er suchte in seinen Taschen nach Geld für das Taxi zurück, fand aber nur die Gabel aus dem Schwanneke. Er würde zu Fuß gehen müssen. Am Himmel leuchtete der Mond über Berlin so hell wie eine nackte Glühbirne in einer Toilettenkabine. Beim Schwimmbad an der Sturzbrunnenstraße wechselte er die Straßenseite und sah zu seiner Linken die Bibliothek der Goldschmieden-Universität, vor der offenbar ungefähr fünfzig Studenten ein Freudenfeuer entzündet hatten. Sie johlten. Wahrscheinlich irgendeine bescheuerte Kunstaktion, aber Loeser war dennoch neugierig und wollte sehen, was da vor sich ging. Als er näher kam, sah er, dass es Bücher waren, die sie verbrannten, indem sie eines nach dem anderen auf einen eckig aufgeschichteten Scheiterhaufen warfen. Einige Jungen und Mädchen hielten Spruchbänder, die im flackernden Licht schwer zu entziffern waren. Für einen so zähen Brennstoff war der Rauch doch recht beißend.
»Was macht ihr da?«, fragte er den nächststehenden jugendlichen Biblioklasten. Immer wenn ein schweres Buch im Feuer landete, stoben fröhlich die Funken auf, und Papierfetzen tanzten im Wind wie feuriges Herbstlaub.
»Das ist entartete Literatur. Wir zerstören sie im Namen Deutschlands. Willst du mitmachen?«
Loeser gluckste. Der Student spielte seine Rolle mit geradezu expressionistischer Unnachgiebigkeit. Es war, wie Loeser zugeben musste, etwas durchaus Schnurriges daran, gleich vor den Toren der schicken und modernen Goldschmieden-Universität diesen mittelalterlichen Volkszauber aufzuführen. Genau so etwas hätte Loeser in dem Alter selbst einfallen können. Er wollte eben fragen, ob sie zu einer bestimmten Gruppe oder einem bestimmten Kollektiv gehörten, da drückte der Student ihm einen Roman in die Hand. Er senkte
Weitere Kostenlose Bücher