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Eheroman (German Edition)

Eheroman (German Edition)

Titel: Eheroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Seddig
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hellbraune Soße und Salzkartoffeln. Hartwig schneidet das Fleisch in kleine Stückchen und vermanscht ihm die Kartoffeln mit der Sauce.
    «Wohl bekomm’s!», sagt Hartwig und setzt sich neben ihn an den Tisch, faltet die Hände wie zum Gebet und strahlt eine heftige Freundlichkeit aus. Herr Bode öffnet den Mund, er atmet schnell, schließt den Mund wieder und wischt sich zitternd die glasigen Augen. Ava kann jede einzelne Anstrengung in ihrem eigenen Körper nachfühlen, während sie ihren Kiefer zusammenbeißt, um es stellvertretend für ihn zu kontrollieren, und gleichzeitig eine Freundlichkeit wie Hartwig auszustrahlen versucht.
    «Erisn Scherskiks», murmelt Herr Bode dann leise und viel zu schnell. Aber Ava hat ihn verstanden. «Ja, das ist er», sagt sie und lächelt Herrn Bode weiterhin freundlich an, der konzentriert die Gabel zum Mund führt. Dann steht sie auf, um sich ans Fenster zu stellen. Das Fenster scheint ihr ein höflicher Ausweg aus dem Krampf. Sie hält die grünen Gardinen mit einer Hand auf und blickt auf die sonnenüberflutete, mehrspurig befahrene Stresemannstraße. Das Rauschen von stetigem Straßenverkehr vereint sich mit dem Drama des Warschauer Symphonie-Orchesters auf dem Kühlschrank. Das Fenster ist angekippt, und eine vorbeieilende Polizeistreife überkreischt das Streichkonzert für einige Sekunden, bis das Sirenengeräusch leiser wird und die Geigen gleichzeitig an eine traurige und intime Stelle des Konzertes gelangt sind. Ava fummelt mit Fingern und Daumen an dem grob gewebten Gardinenstoff herum, sie glaubt, dass es Herrn Bode unangenehm sein muss, beim Essen beobachtet zu werden. Wie kann es sich anfühlen, wenn zwei Leute vor einem sitzen und beobachten, wie einem Stücke des mühsam Zerkauten wieder aus dem Mund fallen? Vielleicht hat er keine Scham mehr, alles geht irgendwann verloren, alles fällt von ihnen ab, das ist vernünftig und passt zu der Situation. Vielleicht. Man weiß es nicht.
    Die Geigen schluchzen auf, und Ava dreht sich wieder zu Herrn Bode um, dem sie demnächst selbst das großkarierte Handtuch umbinden wird.
    Von Hartwig weiß sie das meiste. Erwin Bode hat Parkinson. Er humpelt verkrampft durch seine Räume und widersetzt sich dem Gesundheitsplan seiner Tochter. Elisabeth Bode-Kallies, Mutter von vier Kindern und Hebamme von Beruf, ist Ansprechpartnerin für Hartwig und jetzt auch für Ava. Sie hat sich in die Krankheit bestens eingelesen. Sie weiß, was ihm guttut, aber Herr Bode widersetzt sich zum Beispiel dem Sportprogramm, das hauptsächlich aus Spazierengehen an der befahrenen Stresemannstraße besteht. Es gibt hinter Lidl einen Weg zu einem Grünstreifen, einem Minipark. Dorthin schaffen sie es nicht immer, hat ihr Hartwig gesagt. Aber er nimmt stets eine beschichtete Decke mit, für den Fall, dass sie es schaffen und sich Herr Bode dann auf den Bänken ausruhen möchte. Vor einem Haufen eingezäunten Sandes, in dem manchmal Kleinkinder graben, setzen sie sich dann auf eine Bank und schauen den Kindern zu oder den stumm wartenden Mütter neben sich, für zehn Minuten, nicht länger, denn es ist keine Zeit für Rumsitzen. Ava nimmt sich vor, es mit Herrn Bode bis zum Grünstreifen hinter Lidl zu schaffen. Sie baut immer gleich einen Ehrgeiz mit allem auf.
    «So», sagt Hartwig und wischt Herrn Bode den Mund mit seinem Tuch ab, «Frau Androsevich wird ab heute für mich kommen.»
    Herr Bode starrt Ava mit seinen entzündeten, zusammengekniffenen Augen an und öffnet seine Lippen, um hervorzustoßen: «Frau A-a-adre …»
    «Ava können Sie auch sagen», sagt Ava.
    «Ava und ‹Sie›», fügt Hartwig drohend hinzu.
    Herr Bode nickt. «Ich bin … nicht enttäuscht», murmelt er und grinst.
    «Das kann ich mir denken», sagt Hartwig und kratzt die Essensreste in den Müll. «Frau Androsevich ist aber streng wie ich, da brauchen Sie auf nichts zu hoffen. Sie ist Krankenschwester. Sie weiß, was gut für Sie ist.»
    «Jaja», sagt Erwin Bode, «vonner Krangheit hatmer nichs.»
    Draußen sagt ihr Hartwig, dass sie sich beeilen muss. «Und das ist mit allen so. Am liebsten hätten die dich den ganzen Tag, wenn die dich erst mal kennen, die zeigen dir Fotos und Wellensittiche und reden was von ‹Wetten, dass …?› und von Enkelchen. Ist ja alles schön, aber du musst weiter. Wie im Krankenhaus, nicht anders. Du hast keine Zeit. Es reißt dir das Herz raus, aber du hast keine Zeit.»
    «Keine Zeit», wiederholt Ava.
    «Auch Vorsicht mit Mitleid»,

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