Eheroman (German Edition)
geknotet.
«Lange, lange ist es her …», ruft sie und wirbelt um Ava herum und drückt sie an sich. Dann schließt sie den ohnehin seit einer Viertelstunde geschlossenen Laden ab und springt weiter um Ava herum, der die Müdigkeit plötzlich, da sie am Ziel ist, in den Knochen und in den Augen sitzt, während sie ziellos durch die Straßen ziehen.
Ava hat schwer gehoben und Tränen getrocknet. Sie hat Frau Weise den Po abgewischt. Frau Weise hatte dabei geweint und sie selbst fast auch. Dabei sollte sie laut Hartwig kein Mitleid empfinden. Nur ganz tief in einer versteckten Stelle ihres Herzens. Nicht an der brüchigen Oberfläche. Ihre Hände sind heute zigmal desinfiziert worden und davon ganz rissig geworden, sie muss mehr eincremen, fällt ihr ein, sie muss Creme in ihrer Handtasche bei sich tragen, damit sie immer eincremen kann. Frau Weise ist wirklich komplett im Arsch, denkt sie, lange wird sie nicht mehr machen, und dann denkt sie plötzlich, in dieser warmen, lauen Luft, sie würde eigentlich am liebsten im Bett liegen, es hat alles gar keinen Sinn, überhaupt keinen.
«Ava, was ist denn? Bist du müde?»
Ava nickt.
«Blöde Kuh! Sei doch nicht müde! Du kannst doch später müde sein. Jetzt bist du gefälligst wach! Du kriegst einen kleinen Espresso und dann Sekt, und dann geht es wieder.»
«Ach ja. Es ist nur der ganze Tag. Und die Kinder. Und alles.»
«Ich weiß. Aber wer ist stärker, du oder die?»
«Welche die denn?»
«Du weißt schon. Die Dinge alle, die ganzen miesen Dinge. Oder steckst du schon so tief drin, Avi, dass du nicht mehr Bescheid weißt? Hier haben wir doch jetzt Freude, Avi, Freude und totale Wachheit.»
«Wenn du es sagst.»
Freude und totale Wachheit breiten sich in kleinen Dosen in ihr aus, es ist die Anwesenheit ihrer dürren Freundin mit dem Glastropfen um den Hals, die sich in Freude und totaler Wachheit materialisiert und sie belebt.
«Bist du nie müde?», fragt Ava.
«Pscht!!!»
Merve reißt sich die Träne vom Hals und wickelt das rote Tuch von ihrem Körper und stopft es in ihre geflochtene braune Handtasche. Sie sieht nun weniger esoterisch aus. Sie trägt ein weißes T-Shirt. Sie sieht immer noch aus wie ein Mädchen, mit wenigen, aber sehr klaren Falten im Gesicht. Sie bekommt nicht die kleinen Fältchen um die Augen und den Mund herum, dafür bekommt sie gleich klare Linien, alles sauber und glatt und klar modelliert.
Sie gehen italienisch essen. Sie essen Pizza, und während des Essens muss auch Merve gähnen. Sie muss morgens aufstehen, denkt Ava, sie muss ihr Kind in den Kindergarten bringen, in die Uni rasen, zum Buchladen rasen, ihr Kind wieder abholen, einkaufen, Essen machen und dann vielleicht noch lernen oder Aufgaben erledigen, für das nächste Seminar, die nächste Klausur. Merve ist ebenso erledigt, sie sträubt sich nur dagegen. Sie sträubt sich immer gegen alles, was stärker sein will als sie. Dieses kleine, dürre Gehopse.
Merve sagt: «Die Frau, der der Laden gehört, wo ich arbeite, die Frau heißt Barbara, das ist eine ganz nette Frau, Ava, wirklich, die hat mich gefragt, ob ich Theater spielen will. Ich weiß nicht, ob es was für mich wäre, ich hab ja eigentlich genug zu tun, aber wenn wir es zusammen machen würden, wir beide, dann hätten wir vielleicht Spaß. Theater wollte ich immer schon mal spielen, auch wenn ich keine Zeit habe, aber ich würde es trotzdem machen. Man hat nämlich Zeit, man weiß es nur nicht, verstehst du?»
Ava schluckt lang und durstig an ihrem Beck’s. Gerade hat sie gedacht, dass es alles zu viel ist. Die Kinder, die Arbeit, der Haushalt, Danilo und ein Buch lesen, es passt nicht alles in den Tag. Der Tag ist zu kurz, der Körper ist zu schwer, und noch einen Termin dazunehmen, noch mehr Arbeit und Verpflichtung? «Nein, das schaffe ich nicht, Merve.»
«Sie ist eine echte Schauspielerin, vom Theater, vom echten Theater, nur jetzt nicht mehr, weil sie krank ist. Sie hat ein Stück geschrieben, und sie meint, ich wäre so ein Typ. Aber ich wette, du wärst auch so ein Typ. Sie sieht richtig hübsch aus. Sie hat schon graues Haar und alles, aber sie sieht schon hübsch aus, und sie ist auch lustig. Sie lacht immer mit mir über das Zeug im Laden, wir lachen so dermaßen, Ava, obwohl sie das selber kauft, und das ist ja auch ihr Laden, also lacht sie über sich selber. Und deshalb denke ich, es könnte gut mit ihr werden. Da hab ich so ein gutes Gefühl bei ihr. Es kostet auch kein Geld oder was,
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