Eheroman (German Edition)
sich selbst wichtig zu nehmen.
«Hast du Sport getrieben?» Die Frage kommt ihr vollkommen verrückt vor. Die Mummi treibt keinen Sport. Sport ist eine Art Luxus, den die Mummi für sich nicht in Anspruch nimmt, weil sie dafür keine Zeit hat.
Aber die Mummi antwortet auch nicht auf die Frage. Sie denkt an anderes. «Ich werde mal den Tee für deinen Vater machen», sagt sie und erhebt sich mühsam aus dem Schaukelstuhl. Der Lappen rutscht von der Lehne und fällt auf die Fliesen. Die Mummi starrt ihn an, überlegt kurz und lässt ihn dann liegen. Eine kleine, dumpfe Angst wellt in Avas Herz. Sie weiß ganz genau, was die Mummi gedacht hat, als sie überlegte und dann beschloss, sich nicht zu bücken und den Lappen für den Moment auf den Fliesen liegenzulassen. Die Mummi hatte die Anstrengung gescheut und das Bücken auf später verschoben. Das ist neu, das hätte sie früher nie gemacht. Früher hätte sie keuchend und stöhnend jede Arbeit sofort erledigt. Einen weißen Waschlappen hätte sie nie auf den staubigen Terrassenfliesen liegengelassen. Was ist mit der Mummi geschehen, und wie wird es weitergehen? Die rosa Nägel bekommen eine neue Bedeutung. Die rosa Nägel, wie die Plastikperlen eines kleinen Mädchens, künstlich und ein wenig albern, sind die ersten Anzeichen einer noch fernen, kindhaften Vergreisung. Ava kennt kindhafte alte Leute von ihrer Arbeit bei «Hartwig Endres Häusliche Pflege». Ava weiß, wie es werden kann, und es sollte ihr keine Angst machen, weil es so schlimm nicht ist. Sie seufzt und hebt den Lappen wie ein kleines, nasses Tier von den Fliesen und legt ihn auf den Terrassentisch. Dann steht sie auf, um der Mutter in die düstere Stube zu folgen, wo der Vater stur zwischen unzähligen Zeitschriften und Büchern und Kissen auf dem Sofa sitzt und sich weigert, der sonnigen Welt unter die Augen zu treten.
Im Wohnzimmer ist es trotz der breiten und tiefen Fenster dunkel. Es riecht aber kühl und angenehm nach Holzpolitur und Bügeleisen, das zum Auskühlen auf seinem Ständer neben dem aus braunen Feldsteinen albern zusammengefügten Kamin der Eltern, einer relativ neuen Anschaffung, auf seinem Ständer steht und noch leise zischt. Der Vater hat hier im Schatten des Zimmers die Wäsche gebügelt. Er bügelt immer die Wäsche, während der Tee nie von ihm bereitet wird. Den Tee muss die Mummi ihm bereiten. Die Mummi trinkt selbst keinen Tee, sondern stets Kaffee, und früher hat der Vater auch Kaffee getrunken, aber seit einigen Jahren trinkt er Tee, wie ein Engländer, als der er sich in gewisser Weise fühlt, auch wenn er keinen Unterricht an der Volkshochschule mehr gibt.
Der Vater sitzt blass auf dem Sofa, seine Haut ist zwischen seinen Knochen eingesunken, als wäre das Fleisch aus seinem Körper verschwunden, und starrt auf das breite Fenster, das den Blick auf den glattgemähten Rasen freigibt, auf ein Grün, das fast schmerzhaft in seiner sonnig glühenden, neonfarbenen Intensität ins Auge brennt.
«Was sitzt du nur immer hier im Dunkeln?», sagt Ava, aber der Satz scheint ihr selber so überflüssig und unsinnig, denn der Vater sitzt fast ausschließlich im Dunkeln und starrt und denkt. Er geht nirgendwo mehr hin, er redet kaum und fast nur mit der Mummi. Wie die Mummi das erträgt, ist Ava ein Rätsel.
«Ach, ich sitz hier nur so», sagt der Vater um Verzeihung bittend, mit einem Lächeln, das seine Augen ganz klein macht und Ava ein schlechtes Gewissen. Ava hat mit Petra lange und oft über die Ehe ihrer Eltern geredet, als sich alles immer ein kleines Stück weiter in diese Richtung entwickelte und bevor es angekommen war, wo es jetzt ist. Und das ist noch nicht der Endpunkt, denkt sie. Es wird noch schwerer zu ertragen sein. Irgendwann. Petra hatte die Sache ein wenig anders gesehen. Petra hatte gesagt: «Ava, das ist nicht so schlimm, sie verstehen sich doch. Sie zanken sich nicht. Oder hast du sie zanken gehört? Früher haben sie sich doch viel mehr gezankt als jetzt.»
«Ja», hatte Ava gesagt, «aber siehst du denn nicht, wie verrückt das alles ist? Und meinst du denn, dass die Mummi glücklich ist?»
«Nicht alle sind so anspruchsvoll wie du», hatte Petra gesagt. «Sieh doch mal, wie freundlich sie miteinander sind.» Vielleicht hatte Petra recht. Vielleicht aber war es ganz anders. Vielleicht hatte der Groll des Vaters darüber, keinen intellektuellen Partner für sich gefunden zu haben, sich insgeheim verstärkt, als er erkennen musste, dass sich sein Leben
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