Eheroman (German Edition)
Gläser.
«Wusstet ihr, dass ihre Mutter eine Hure war?», fragt Jacqueline, und ihr Gesicht verzieht sich vor Anstrengung über diesen Gedanken zu einer Fratze.
«Barbaras Mutter meinst du?», fragt Merve.
«Sie war eine von den Teuren», redet Jacqueline weiter, ohne auf Merve zu achten. «Sie hatte sich ein gutes Geschäft aufgebaut. Sie war eine von den ganz Teuren.»
Alle schweigen und starren Jacqueline an, die, geschmeichelt ob der gesammelten Aufmerksamkeit, ihr Kleid wieder glatt über das Knie zieht. In die Stille hinein baut sich ein stärkeres Grummeln auf, und die Wärme liegt zwischen den Mauern und der Hauswand unter den Bäumen wie ein Stein. Wellen dieser Wärme steigen an Avas Körper auf, und der Alkohol verwandelt sich in ihrem Gehirn zu einem leise kichernden Wahnsinn.
«Was hast du denn dann mit ihr zu tun gehabt? Ich dachte eigentlich, ihr wärt irgendwie verwandt?», fragt Merve und kaut wieder auf dem Fetzchen Haut an ihrem Daumen.
«Barbara ist meine Schwester», sagt Jacqueline. Dann fügt sie hinzu: «Väterlicherseits.»
«Verstehe», sagt Merve. «Das war ja auch dann euer Vater in dem Stück.»
«Das Schwein», sagt Jacqueline.
«Genau», sagt Merve. «Irre Geschichte. Ihr seid irre alte Frauen, also wirklich.»
«Isch lernte sie auf der Be-erdigung kennen. Wir ’ielten Kon-takt, und als meine Mutter starb, schlug ich ihr vor, bei mir einzuziehen. Wir ’atten beide keinen Mann. Merkwürdig.»
«Merkwürdig, ja», sagt Merve.
«Ich konnte sie eigent-lisch nicht leiden. Sie war grob und un-gebildet. Sie stank nach Hurenfleisch, wie ihre Mutter, so stank sie nach Hurenfleisch.»
Ava und Merve und Konstantin starren Jacqueline an. Konstantin, in seiner dünnen grauen Hose, mit seinen polierten Schuhen und seinem hochgekrempelten weißen Hemd, ihm stehen die Schweißperlen auf der Stirn, aber seine Augen lächeln, und er scheint am wenigsten verwundert. Konstantins Gesicht ist länglich und über den geraden, hellen Augen befindet sich eine ovale, braune Stirn, durchzogen von drei parallel übereinanderliegenden, sich kräuselnden Falten. Sein graues Haar kämmt er nach hinten, es ist mittellang geschnitten und wellt sich elegant, seine Erscheinung ist die eines alten, eleganten Fernsehgauners. Konstantin Bodenegg trägt seit seinem Unfall vor fünf Jahren seine Schuld wie eine stille Last vor sich her. Er ist bereit, fast allen Menschen fast alles zu verzeihen, weil er sich selbst nicht verzeihen kann. Er hätte vielleicht nie mit ihnen Theater gespielt, wenn er nicht die junge Frau auf dem Fahrrad angefahren hätte. Still, böse und elegant hat er die Rolle des Schweins gespielt. Er war gut gewesen. Zu gut, die neun Zuschauer mochten ihn, und das hatten sie nicht gesollt.
Merve steht auf. «Wenn du so etwas über Barbara sagst, dann gehe ich besser», sagt sie.
«Barbara ist doch euer – Engel gewesen», redet Jacqueline störrisch auf ihrem Stuhl, ihren gebeugten, kleinen Rücken mit Gewalt gerade haltend, «aber was ihr nicht wisst, das ist, wie ’inter-’ältig sie war. Sie ’at misch belogen und betrogen. Sie ist sooo … bööööse.» Dann steht sie auf und geht durch die Terrassentür und verschwindet in der Dunkelheit des Hauses. Der erste laute Donner entfaltet sich über dem Viereck von Himmel, das sich grau gefärbt hat, eine Stille in den Wipfeln jetzt und eine Angespanntheit.
«Tja», sagt Konstantin, steht auf und hebt seinen Esszimmerstuhl hoch. «Die Jacqueline.»
Merve und Ava nehmen ihre Stühle ebenso und tragen sie ins Haus. Im Flur lauschen sie nach Schritten von Jacqueline, aber aus den Tiefen des dunklen Hauses tönt nur das Quietschen der gelöcherten Plastikschuhe von Karen, der Frau, die Jacquelines Haus sauber hält. Sie erscheint fast triumphierend im Flur, gerade und aufrecht, faltet die Hände vor dem Bauch zuckt mit den Schultern, während sich ihr vorgewölbter Bauch unter der blassen Schürze bewegt und sie sagt: «Sie vermisst sie so sehr.»
Ava sieht Merve an, die ihren Mund öffnet, um etwas zu sagen, ihn aber dann wieder schließt, weil sie begreift. Draußen donnert es dumpf.
«Wir sind ihr nicht böse oder so», sagt Ava, weil sie meint, dass es ganz schlecht wäre, wenn sie so gehen würde und wenn das alles hier so in diesem Flur stehen bleiben würde.
«Ich werde es ihr sagen», sagt Karen, «das ist alles nicht so einfach für sie.»
Ava versteht langsam, woher Karen ihre Überlegenheit nahm.
Draußen ist es dunkel
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