Eheroman (German Edition)
benachteiligtes Kind, das von allen geliebt und bemitleidet wird. So sind die Rollen verteilt und die Weichen gestellt, wenn die Namen verteilt und die Koffer gekauft sind.
Danilo ist in der Schule und probt ein Stück, obwohl schon Ferien sind. Er wird sich wundern, wenn er spät nach Hause kommt und Avas Brief auf dem Tisch findet. Er wird sich sogar sehr, sehr wundern, denn er weiß nichts von Stulle, und plötzlich ist Stulle da und fährt mit Ava nach Portugal. Ava ließ sich von Stulle zu diesem Brief inspirieren: «Danilo, ich bin weg, nach Portugal mit Stulle. Du weißt sonst immer alles besser, und Du wärst ganz gegen Stulle, deshalb frage ich Dich lieber nicht, ich will Dich sowieso nicht immer fragen oder ungefragt deine Meinung hören, deshalb, viel Spaß mit Deinen Freunden an der Ostsee! Wir sehen uns später dann, ich nehme an, es ist Schluss, Deine Ava.»
Das «Deine Ava» steht ein bisschen im Widerspruch zu den restlichen Zeilen. Doch sie ist nun mal bis heute seine Ava. Jetzt auch noch, oder? Sie schließt die Tür hinter sich und sieht im hölzernen Treppenhaus nach oben, wo die Katzen sich hinter der Tür schlagen. Aber sie muss weg, wenn man schon wegmuss, dann gleich, sonst schafft man es nicht und bleibt bei den Leuten hängen. Draußen wird es endlich Nacht, draußen ist es immer noch warm und staubig, und die tiefen Reste der Sonne malen glühende Streifen in den dunkelnden Himmel und auf die oberen Dachkanten der schon schattig dunklen Häuser. Draußen ist alles, was vorkommt, und springt auf sie zu. Heftig, denkt sie, es ist so heftig, obwohl sie nur mit dem Bus zu Stulle fährt.
«Du bist wirklich da», sagt Stulle, als wenn er es nicht geglaubt hätte. Aber das ist verständlich, sie hatte es ja selbst kaum geglaubt und glaubt es immer noch kaum. Doch sie merkt ja, dass sie es tut und mit ihrem altrosa Koffer in Stulles Wohnung steht, wo es jetzt bald losgeht, um fünf Uhr genau, und sie soll noch etwas schlafen vorher, jedenfalls will Stulle schlafen, ob sie schläft, ist egal, weil sie keine Verantwortung trägt.
Danilo ist bei einer Probe für eine Aufführung, die der Schule den Spiegel vorzeigen soll. Es ist schulpolitisches Theater, sie kommen sich verwegen vor, sie sollten im Krankenhaus arbeiten, da würde ihnen ihre Verwegenheit vergehen, da hat sie keinen Platz. Die Politik ist immer da, in dem Geld und den Geräten und den Patienten, die ein einzelner Mensch betreuen muss, aber die Müdigkeit schlägt alle. In der Schule geht das natürlich mit dem Theater, da wird es von den Schulpolitikern wohlwollend zur Kenntnis genommen, denn die Kritik und das Theater sind die Knospen der Bildung. Sie denkt sich, dass sie neidisch ist, in gewisser Weise, und deshalb den Groll auf Danilo hat. Aber Neid ist kein ganz verbotenes Gefühl. Und Danilo ist gar nichts auf sie, weil er ihr Leben nicht als Teil von seinem betrachtet. Sie seines schon, sie kann gar nicht anders, als das Leben von anderen als Teil ihres eigenen zu betrachten, wie bei der Muschifrau, wie bei Stulle und vor allem bei Danilo. Von ihm hätte sie mehr gewollt. Dass er einmal kommt und die Flure betrachtet, in denen sie jeden Tag die Bettpfannen entlangträgt, und die verschmierten Handtücher und das pampige Diätessen. Dass er den kranken Geruch wahrnimmt, ihre Anstrengung versteht, aber nichts. Er geht nicht in ihr Krankenhaus, weil er gar keinen Grund dazu hat. Das ginge ihm zu weit und würde zu sehr über seine Ehrlichkeit hinausführen, wenn er sich derart bemühte teilzuhaben. Beate hat ihr gesagt, dass Danilo hier gar nichts zu suchen hätte und dass das keine Show wäre und kein Tag der offenen Tür. Jensen dagegen ist schon da gewesen und hat Beate ihre Schnitten und ihre Zigaretten gebracht, als sie die vergessen hatte. Er hat sich im Schwesternzimmer hingelümmelt und ein paar Scherze gemacht und ist ein bisschen rumgerannt, bis sich ein Arzt blicken ließ und Beate ihm gesagt hat, er soll abhauen. Dabei wäre Jensen gern noch geblieben und hätte sich einiges erklären lassen. Danilo braucht sich nichts erklären zu lassen, er weiß schon alles. Deshalb, denkt sie, fährt sie nach Portugal in einem Lkw und teilt eine schmale Matratze mit einem Mann namens Stulle, der verlogene Briefe an seinen Vater schreibt, die so verlogen wahrscheinlich nicht sind.
Am zwölften August um fünf Uhr vier steigt Ava die eisernen, abgeschabten Stufen zu ihrem Sitz empor. Stulle hat den Lkw voll Verpackungsmaterial,
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