Eheroman (German Edition)
das er gestern Abend schon aus Hamburg abgeholt hat. Der Himmel über ihnen ist blasslila, es wird heiß werden in Lüneburg, in Deutschland, aber sie wird in der Kabine eines Lkws sitzen und einem ganz anderen Klima ausgesetzt sein. Das Wetter in einer mittelgroßen deutschen Stadt, die sie gerade noch ihr Zuhause nannte, interessiert sie gar nicht. Kaum irgendetwas, das mit hier zu tun hat, interessiert sie. Oder interessiert es sie, dass Danilo gleich wach werden, sich Wasser für Kaffee anstellen und zum zehnten oder zwanzigsten Mal ihren Zettel lesen wird? Sie sieht sich um. Kommt Danilo jetzt auf dieser Straße angerannt, um sie mit seiner Liebe zurückzuhalten? Danilo, mit seinen einmaligen Wildbuschhaaren, seinen Cordhosen und seinem ovalen, behaarten Bauchnabel? Ist sie, Ava, enttäuscht, weil er sie nicht zurückhält?
Stulle stellt das Radio an, und sie nimmt ihm den Sendersuchknopf aus den Fingern, weil er fahren soll, und sie will über die Musik entscheiden. Das hat er davon, geht es ihr durch den Kopf, wenn er mit einer Frau unterwegs ist, nun kann er nichts mehr allein entscheiden, nun ist er zu zweit. Im Radio Haddaway: «What is love? Baby don’t hurt me, don’t hurt me, no more.» Es ist der Hit, der in diesem Jahr immer und jede Minute aus jedem Sender schallt. Na und. Stulle nickt dazu mit dem Kopf. Unter ihnen, weit unter ihnen, die lange Straße, die vielen kleinen Pkw, die Sonne weit oben und Haddaway in ihrem Kopf. «What is love?»
«Und, wie is es?» Stulle sieht kurz zu ihr rüber und lächelt breit, mit seinen schiefen hellen Schneidezähnen.
Sie will sagen, dass sie ja gerade eben erst eingestiegen sind und das Radio angestellt haben, dass sie noch nicht einmal aus Lüneburg heraus sind, aber im selben Moment überkommt sie die Wut über diesen Umstand. Hakt sie am Ende fest in diesem beschissenen Nest und kommt nie weiter, und die Zeit hält an und alles zerrt an ihr, um sie in diesem Lüneburg zu halten, weil es ihr gar nicht erlaubt ist, weil sie nur Ava Grünebach und keine Abenteurerin ist?
«Geht es mal voran, Stulle, wir sind ja immer noch hier?»
«Klar, es geht immer voran, am Anfang kommt es dir nur nicht so vor. Der Anfang zieht sich immer hin. Weil du alles kennst, die Straßen, die Kreuzungen, dann geht es irgendwann schneller, und wenn du dich an das Fremde gewöhnt hast, geht es wieder langsam.»
Dann sind sie endlich aus Lüneburg raus und fahren auf die A7 Richtung Hannover. Und hier, auf der Autobahn, im mehrspurigen Strom der Lkws, hier ist es fremd genug, um Ava klarzumachen, dass es jetzt wirklich weggeht. Und nicht mehr zurück. Kein Umentscheiden mehr. Sie regt sich ein bisschen auf. Ihr Herz klopft ein wenig zu schnell. Ihr Lächeln verkrampft sich. Sie hat Danilo wirklich mit ihrem gemeinsamen Urlaub alleingelassen. Er weiß es schon. Aber sie ist auf der Autobahn.
«Ich mag es auf der Autobahn», sagt sie. Sie war selten in ihrem Leben auf Autobahnen. Die Eltern hatten kein Auto. Der Vater kann nicht Auto fahren. Eines der vielen Dinge, die der Vater nicht kann, die ein Mann können muss. Wenigstens der Mann. Die Frau nicht so sehr. Die Mutter kann aber Auto fahren, wie alles. Sie haben dennoch nie eines besessen, wegen des Geldes, das es kostet. Und der Bus fährt ja. Das hat die Mutter stets gesagt: «Der Bus fährt ja, Ava.» Der Bus fährt und fährt. Die Verbindung ist gut. Ava stand ihr Leben lang am Bus. Bis sie wegzog und in Lüneburg mit dem Fahrrad von Frau Schultetee dem Busfahren ein Ende machte.
Die Eltern kauften ihre Lebensmittel bei Regines Minimarkt, zur Kette der Edeka-Märkte gehörig. Obwohl es da sehr teuer und die Auswahl so lala sei, sagten alle im Dorf. Die Eltern gingen aber immer mit ihren Taschen und die Mutter mit dem karierten Hackenporsche dort das ganze Essen und das Toilettenpapier und alles einkaufen. Die Getränke ließen sie sich liefern. Warum denkt sie jetzt, auf der Autobahn, an die Eltern? Weil die Eltern entsetzt wären. Die Eltern dürften gar nicht wissen, was Ava tut. Sie würden es verurteilen. Aber vielleicht auch nicht so sehr, überlegt sie sich. Der Vater würde es vielleicht verstehen, mit einem Gedicht. Der Vater hatte immer eine Sehnsucht nach der Ferne und der Autobahn. Die Mutter würde es nicht verstehen, aber verzeihen. In Gedanken lächeln sie beide Ava an und sagen: «Ava, du machst auch immer alles nach deinem Kopf, wie du willst.»
Ava lächelt auch. Sie macht, was sie will. Sie ist von hier
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