Eheroman (German Edition)
Art. Sie schreit ohne Grund und wenn es gerade gar nicht passt.
«Merve, wo ist Johnny?», wiederholt Ava ihre Frage, obwohl ihr Merve schrecklich leidtut, wie sie dort hockt, wie ein Kind in einem Versteck, aber die Angst verkrampft Ava den Kiefer, sie hat noch kein Interesse an Merves Schmerz, Merve geht es vielleicht nicht gut, aber Merve lebt.
Ava packt sie mit einer Hand fest an der Schulter, die knochig dünne Schulter, kaum Fleisch dran, und rüttelt sie und sagt sehr laut: «Merve!!! Wo ist Johnny?»
Babymerve fängt an zu schreien und krümmt sich auf Avas Arm nach hinten.
Merve starrt immer noch auf den Fußboden, als wäre Ava nicht da. Ihr beiger Baumwollstrickpullover ist beschmiert, die Ärmel über den dünnen Handgelenken verdreckt, sie trägt eine lächerliche, winzige Silberkette mit einem Kleeblattanhänger, in die sie einen knochendünnen Finger einhakt, und spielt verlegen mit dem Anhänger. Dann zieht sie ihre Schultern ganz hoch bis zu ihren Ohren, rollt die Lippen über den Zähnen hoch, als wollte sie grinsen, und flüstert: «Ich hab ihn zurückgebracht.»
«Zurückgebracht? Wohin zurückgebracht?»
Merve grinst immer noch auf eine zerbrechliche Art, als würde ihr kein angemessener Gesichtsausdruck mehr gelingen.
«Merve, wohin hast du ihn zurückgebracht?»
Babymerve schreit und biegt sich noch weiter nach hinten, ihr kleines Gesicht ist verzerrt und läuft schon bläulich an vor Wut und Unzufriedenheit, was kann es sein, was sie ihr vorwirft, was, verdammt noch mal, macht Ava denn nur falsch?
«WOHIN hast du ihn gebracht?»
«… as Krankenhaus», flüstert Merve kaum noch hörbar, «… hab ihn wieder hingebracht … In ein Bett … legt.»
«Er lebt», sagt Ava.
Merve nickt sehr heftig, während Ava ihren Arm langsam sinken lässt und ihr kleines, schreiendes Baby auf der grauen Auslegware zwischen Zeitschriften und Essensresten vorsichtig ablegt. «Dann ist ja alles gut», sagt Ava, obwohl nichts gut ist, und streicht über Merves verklebtes, verfilztes Haar. So sitzen sie da, in Merves Müll, die Sonne scheint durch die Fenster in ihre müden Gesichter, Babymerve schreit und rollt sich wutverzerrt hin und her auf der Auslegware und den Krümeln, die große Merve schreit nicht, sie sitzt stumm da, mit leerem Blick, Avas warme Hand auf ihrem strähnigen roten Haar, und über ihnen liegt eine große, staubige Ratlosigkeit.
Auf dem Rückweg ist es schon dunkel, es regnet, Ava hat Merves Bude aufgeräumt, Babymerve gestillt und gewindelt, hat mit dem Krankenhaus telefoniert und sich von Merve berichten lassen, was passiert war, obwohl so viel, wie sie befürchtet hatte, gar nicht passiert war. Der Assi war nach ein paar lustigen Tagen mit Johnny und Merve wieder abgehauen, ohne Vorankündigung, er hatte erst noch Pläne gemacht, hatte Ausflüge mit ihr und Johnny unternommen und hatte dabei so gut ausgesehen, und sie hatten alle so gut ausgesehen, wie eine richtig tolle, fröhliche Familie. Dann war er nach Dortmund gefahren, um einem Freund bei einem Drehbuch zu helfen, angeblich, kurzfristig, weil der Freund das Drehbuch anscheinend ohne ihn nicht fertigkriegen konnte, und war nicht mehr zurückgekommen. Er wollte in Griechenland einen ökologischen Ziegenhof aufbauen helfen und dabei sein eigenes Buch schreiben, das sich mit dem Thema Edelmut bei Konfuzius und im Neoliberalismus beschäftigen sollte. Ava erstaunte, dass Merve sich das Thema des Buches überhaupt gemerkt hatte. Aber Merve kann mit Begriffen ebenso jonglieren wie Danilo, ist ihr schon öfter aufgefallen. Als der Assi weg war und auch nicht mehr wiederkam, wurde Merve schnell klar, dass sie Johnny nicht liebte und nicht lieben würde. Sie saß vor dem Kinderwagen, betrachtete das stille, wach starrende Kind und fühlte, dass sie nichts fühlte und nicht einmal Lust hatte, ein Wort mit dem Kind zu wechseln. Selten hatte sie etwas zu dem Kind gesagt, meist hatte sie es stumm gewickelt und stumm in sein Bett gelegt und war froh gewesen, wenn sie es wieder los war. Zunehmend wurde die Versorgung ihr eine unangenehme Last, die sie ungehalten und sogar zornig machte. Sie hielt alles sauber und erfüllte ihre Pflichten, aber das änderte nichts an ihrer Unfähigkeit, es zu lieben.
«Ich fand ihn unangenehm. Wie ist das für dich, wenn ich das sage, Ava? Ich fand ein kleines Baby unangenehm.»
«Dein Baby», hatte Ava gesagt.
«Ich habe ihn weggebracht, als ich gerade anfing, ihn grob zu behandeln. Verstehst
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