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Eheroman (German Edition)

Eheroman (German Edition)

Titel: Eheroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Seddig
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obwohl Ava oft anrief, schließlich hat sie Babymerve in ihren hellblauen, alten und einst teuren Professorenkinderwagen gesteckt, unter ein dickes weißes Kopfkissen, um mit ihr zu Fuß einen langen Spaziergang rüber zu Merve in die Langenfelder Straße in Eimsbüttel zu machen.
    Blendendes Sonnenlicht, ein Ziehen in ihren Schläfen, ein matter Kopfschmerz, den die Helligkeit entblößt, und trotz der Kälte – eine Ahnung von Sommer schleicht sich ein. Sie hält bei einem ockergelb gefliesten Bäckereigeschäft, kauft sich ein Stück matschigen Kirschkuchens und einen Kaffee, den Wagen vor der Scheibe und die an der Bärchenkette ziehenden Handschuhfäustchen Merves im Auge behaltend. Sie stellt sich mit Kuchen und Kaffee an den beschmierten Plastikstehtisch in die Sonne, sie schließt ganz kurz die Augen, den Sommer hinter den rotbunten Lidern, den Verkehr im Ohr, und vermisst dabei ganz schrecklich eine Freundin. Wenn Beate bei ihr wäre, wenn Merve bei ihr wäre, dann würde es mehr Spaß machen. Aber sie muss lernen, auch allein glücklich zu sein. Sie muss lernen, die Dinge zu genießen. Sie hat ein behandschuhtes Kind in einem hellblauen Wagen, das jetzt schläft, und ihr alter brauner Frühlingsmantel passt ihr wieder um die Hüften und den Bauch. Sie weiß wohl, dass der braune Mantel immer reichlich groß gewesen ist und sie ihn deshalb auch im Winter über zwei dicken Pullovern tragen konnte. Nun passt der braune Mantel gerade über einen einzigen, dünnen schwarzen Rolli, den sie ständig trägt, weil er schlank macht, weil er so sanft über allem drüberliegt und trotzdem nicht weit ist. Sie steht also in ihrem braunen Mantel, der ihr passt, mit ihrem Kind in der Sonne und isst Kuchen. Das Leben fängt wieder an, ganz vorsichtig, wie nach einer Krankheit oder einer schweren Operation fängt das Leben wieder an. Vielleicht kann sie Merve überreden, mit ihr spazieren zu gehen. Sie könnten durch Eimsbüttel laufen oder durch die Sternschanze und könnten vielleicht sogar ein kleines Bier trinken oder einfach nur laufen und die anderen Leute ansehen, die keine Kinderwagen haben und ein anderes Leben leben. Sie isst ihren Kuchen auf, trinkt den lauwarmen Kaffee aus und schiebt die immer noch schlafende Merve weiter bis in die Langenfelder Straße.
    Ava klingelt, und niemand öffnet. Ava hat nicht damit gerechnet, dass niemand öffnet. Sie hätte damit rechnen müssen, schließlich hat sie Merve auch telefonisch nicht erreichen können. Vielleicht ist sie mit ihrem aus Singapur wiederaufgetauchtem Freund irgendwohin verschwunden, vielleicht hat er eine neue, größere Wohnung für sie alle gemietet und sie sind jetzt eine glückliche Familie.
    Ava holt ihr Schlüsselbund aus der Manteltasche. Sie hat Merves Schlüssel, Merve ihrerseits hat Avas Schlüssel. Merve kann nicht einfach verschwinden und tagelang nicht erreichbar sein. Ava muss wissen, was los ist. Denn irgendwas ist los. Sie schließt die Haustür auf, schiebt den Wagen in den Flur, nimmt die sich rekelnde und gähnende, bettwarme kleine Merve aus dem Bettchen, drückt sie an ihren braunen Mantel und steigt die Stufen zu Merves Wohnung empor. An der Wohnungstür klingelt sie mehrmals, dann schließt sie auf. In der Wohnung riecht es verqualmt, ungelüftet, säuerlich. In der Küche stehen schmutzige Teller und Töpfe auf der Spüle und auf dem Tisch, der Boden ist übersät mit Asche und Essensresten, zerschlagenen Tellern, Tassen und Scherben von Gläsern, auf dem Tisch angekaute Ränder einer Pizza, Bierflaschen, zerknüllte Papiertaschentücher. Im Schlafzimmer ein ähnliches Bild, Asche auch hier, eine Weinflasche, umgekippt und ausgelaufen, zwischen den herumliegenden Klamotten von Merve und winzigen Klamotten von Johnny, ein offener Plastikeimer voller stinkender Windeln, aber kein Kind im leeren Kinderwagen, der neben dem Bett steht.
    Ava geht ins Wohnzimmer, langsam und auf eine kühle Art hoch konzentriert, mit den Füßen über Gegenstände, die auf dem Boden liegen, stolpernd. Im Wohnzimmer dann, hinter dem Sofa auf der Erde, fast hätte sie sie übersehen, zusammengekauert, die blasse, übernächtigte, verdreckte Merve.
    «Wo ist Johnny?», fragt Ava kalt, während sie ihr eigenes Kind immer noch an sich drückt. Babymerve fängt an, ungemütlich zu werden. Ava hat sie gerade, bevor sie losging, gestillt, sie hat sie gewickelt, jetzt hat Babymerve geschlafen, es gibt keinen Grund, ungemütlich zu werden, aber das ist ja so ihre

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