Eheroman (German Edition)
du?»
Ava nickte.
«Verstehst du nicht.»
Ava geht mit der kleinen Merve unter ihrem dicken Kissen die dunkle Straße entlang, die Plastikplane über den Wagen gezogen, ganz dünner Regen tröpfelt jetzt sanft auf die Plane. Kann sie es wirklich verstehen? Aber wenn sie so wäre wie Merve und wenn es ihr so ginge – das kann sie erahnen, wie es dann sein könnte. Merve verstellt sich nicht und klagt nicht und will keine Vergebung. Merve ist gefangen in der Höhle ihres Denkens und ihres Fühlens, so wie auch Ava.
Man muss versuchen, das Beste draus zu machen. Das Beste sieht manchmal fast wie ein Verbrechen aus. Aber Ava denkt, dass Merve kein Mensch ist, bei dem sie ein schlechtes Gefühl hat. Es ist alles viel komplizierter, als es an der Oberfläche aussieht. Danilo wird das mit dem Baby belasten. Das wird ihn sehr belasten. Und das belastet dann wieder sie, das ist ihr eigenes Leben und kommt noch oben auf alles andere draufgeschichtet.
Danilo sitzt in der dunklen Küche, als sie nach Haus kommt. Er sitzt am Tisch, die Hände gefaltet, und lauscht dem Radio.
«Merve hat Johnny zurück ins Krankenhaus gebracht», sagt Ava über das Radio hinweg, das Nachrichten verteilt.
Danilo schaut hoch. Er legt den Finger an die Lippen. Ava setzt sich zu ihm, während die kleine Merve in ihrem Wagen im Flur am Schlafen ist. Sie starrt durch die Dunkelheit hindurch auf sein Gesicht, sie fühlt die Last der Dinge um sie herum, während im Radio von Luftangriffen der Nato auf Städte in Serbien und im Kosovo die Rede ist.
Als Merve ein Jahr alt ist, unternimmt Ava einen halbherzigen Versuch, sie in einer Kinderkrippe unterzubringen. Aber die Vorstellung, dass andere Menschen den Tag mit ihr verbringen, gefällt ihr nicht. Merve ist ein anspruchsvolles Kleinkind, sie ist schnell wütend und schreit und wirft mit ihren Steinen, und die Tränen perlen ihr über das Gesicht. Ava will nicht, dass sie woanders so ist und andere Leute dann auf sie wütend werden, so wie sie dann wütend wird und es in sich verschließt, weil sie klüger als eine kleine Merve ist und reifer und ihre Gefühle im Griff hat. Aber der eigentliche Grund ist, dass sie fürchtet, eine andere zu sein, wenn sie wieder im Krankenhaus arbeitet. Sie kann sich gar nicht vorstellen, nach der Arbeit das Kind abzuholen, einzukaufen, nach Hause zu gehen und dann, wenn Merve ihre Wut kriegt, noch entspannt zu sein. Jedenfalls halbwegs entspannt. Denn richtig entspannt ist sie nie. Sie ist auch nicht zufrieden. Vielleicht wäre sie zufriedener, wenn sie wieder im Krankenhaus arbeiten würde, aber dann müsste sie Merve in die Krippe geben oder zu einer Tagesmutter. Die Idee einer Tagesmutter gefällt ihr noch weniger, sie will keine andere Mutter für Merve. So bleibt vorerst alles, wie es ist, und der Familie geht langsam das Geld aus. Danilo schreibt seine Magisterarbeit und arbeitet an nichts anderem als an seinem Studium. Sie arbeitet nicht und bekommt Erziehungsgeld und Kindergeld, dazu das Bafög und das ein oder andere Scheinchen von ihrer Mummi, das mit der Post geflattert kommt. Aber das Scheinchen reicht nie für was Hübsches. Es reicht für Butter und Brot. Ava hatte immer etwas zurückgelegt, für die Sicherheit, und jetzt ist die Sicherheit aufgebraucht. Es ist nicht so, dass sie nun nicht essen können, essen können sie, aber schicke Klamotten kaufen zum Beispiel nicht. Schicke Klamotten braucht man aber, wenn man wieder eine Frau sein will, manchmal, wenn man den Kinderwagen nicht dabeihat. Wenn man den weichen Bauch in eine enge Hose quetschen, einen Lippenstift auflegen und sich aufrichten will.
Ava sieht Merve einen schmalen Holzbaustein hochkant auf einen anderen flachen, hochkant stehenden Stein balancieren, es gelingt ihr nicht, und sie versucht es erneut, wirft aber bald wütend die Bausteine von sich und haut Ava mit ihrer knubbeligen Hand auf das Bein. Ava sagt: «Nein, nicht hauen!» Sie nimmt selbst den Stein und stellt ihn ganz langsam auf den anderen. Merve beobachtet es, verzieht das Gesicht zu einem Lächeln und fegt die Steine dann mit beiden Händen durchs Zimmer.
Ava steht auf, um nach der Wäsche zu sehen. Sie nimmt die Wäsche aus der Maschine und hängt sie drüben im Bodenzimmer auf. Danilos Bücher liegen herum, seine eingetrocknete Teetasse steht auf dem Tisch, sein dicker brauner Strickpullover hängt über dem Stuhl, und in der Ecke lehnt sein Vater, vorwurfsvoll gegen die Kellerwand starrend, mit neuer Kleidung.
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