Eheroman (German Edition)
nichts. Ihr Tag ist ein großes NICHTS! Deshalb darf Danilo sagen, darf höhnisch sagen, er würde auch noch nach seiner Arbeit mit Merve zum Arzt gehen. Sie nämlich würde nach dem großen NICHTS zum Arzt gehen – er nach der Arbeit, sie nach den NICHTS. Und am Ende eines solchen Tages voll mit NICHTS ist sie ausgebrannt und leer und vollkommen erschöpft. Wie kann das sein? Wo ist die strahlende Mutter in der hellen, gestreiften Bluse, mit dem frisierten Haar, die im Sonnenschein ihr nackiges Baby vom polierten Fliesenboden hebt und durch die Luft wirbelt, während es quietscht? Das Pampasbaby? Das Zwiebackbaby? Das duftende Schaumbadbaby mit der einen Locke? Natürlich ist Ava nie so blöd gewesen, das zu glauben. Aber trotzdem hat sie so ein Bild in sich und kriegt es nicht raus. Trotzdem sehnt sie sich nach solcher sonnigen Harmonie und nach dem Gefühl von Zufriedenheit.
Danilo ist ein guter Mensch. Er ist klug, und er bemüht sich sehr. Er hat nette Freunde, was für ihn spricht, und er hat jetzt sogar einen Job an der Uni bekommen und verdient das Geld für seine Familie. Er liebt Ava und ist ihr immer treu gewesen. Was also fehlt an dem sonnigen Familienleben? Welche Zutat ist nicht dabei? Ist es am Ende Ava, die ihren Anteil nicht erbringt?
Ava setzt Merve zu Johnny auf die Decke zwischen all die ausgebreiteten Dinge, mit denen Johnny spielt. Einen Plastikkorb mit grünen Wäscheklammern, zwei Silberlöffel und ziemlich zerfetzte Zeitschriften. Johnny ist ein halbes Jahr in einer Pflegefamilie in Ammersbek gewesen, in den Armen einer hübschen, dicken Frau, die Merve noch zweimal besuchen gekommen war, um sich nach dem Kind zu erkundigen, nicht um zu schnüffeln. Merve geht immer noch zur «Mädchenstunde», sie sagt Mädchenstunde zur Therapie, weil die Therapeutin ein Mädchen ist und keine Frau. Merve findet sie gut, und sie will auch zu keiner Frau, die schon hundert Leute therapiert hat und alles schon weiß. Die Mädchentherapeutin ist verhältnismäßig jung und voller unerfahrenem Optimismus. Das gefällt Merve am besten. Sie hat Johnny nach dem halben Jahr Pflegefamilie in einer Art Vernunftsakt zurückgenommen. Sie wollte auf eine sehr verantwortungsvolle Art das Richtige tun. Ihn ins Krankenhaus «zurückzubringen», war für sie damals auch das Richtige gewesen. Ihn in einer Pflegefamilie zu lassen ebenso. Jetzt ist es das Richtige, es mit ihm zu versuchen. Ava hatte ihr vorsichtig erklärt, dass ein Kind kein Experiment mit der eigenen Verantwortung ist. Vielleicht ist es das aber doch.
Merve ging nach der «Zurücknahme» mit dem Kind um wie mit einer ernsthaften Aufgabe, ein wenig zu genau, zu pflichtbewusst, zu getrieben von ihrem Anspruch, die Aufgabe zu bewältigen, als befände sie sich in einer andauernden Prüfung. Ava hatte schwarz gesehen, obwohl sie die Ordnung in Merves Wohnung, die Ordnung in ihrem Tagesablauf bewunderte. Merve war eine Mutter wie ein Soldat, verbissen, zäh, nie klagend, immer schuldbewusst wegen der Krankenhaussache, immer Rücksicht nehmend auf das Kind und sich alle Schlamperei versagend. Sie besuchte, im Interesse des Kindes, sogar eine Krabbelgruppe, obgleich ihr davor graute. Doch während sie, nicht aus einem Gefühl heraus, sondern aus Anstand und aus Gründen der Wiedergutmachung, ihr Kind perfekt versorgte, geschah ein Wunder, und die Sonne ging auf. Ava konnte es miterleben, Ava strahlte selber davon, schließlich war es ihre Freundin, die sie nie aufgegeben, an die sie immer geglaubt hatte, und das würde sie auch immer noch tun, selbst wenn die Sache anders ausgegangen wäre. Eines Tages kam Ava zu Merve in die Wohnung, und Merve öffnete ihr weinend die Tür. Johnny hatte, erfuhr Ava, sich zu Merve gebeugt und ihr über die Wange gestreichelt. Nichts Ungewöhnliches eigentlich. Aber Merve war von der Zuneigung ihres eigenen Kindes vollkommen überrumpelt worden, und ab da, sehr langsam, in kleinen Schüben, ab da ging die Sonne auf für die beiden.
Von dem Assi ist nun kaum noch die Rede. Johnny ist ein großes, schlankes Kleinkind mit feuerrotem Haar geworden. Das feuerrote Haar flammt verfilzt an seinem schmalen Kopf. Auch seine vertrotzten Lippen, seine zusammengepressten Augen, alles erinnert an seine Mutter, vom Vater ist nicht viel geblieben. Johnny ist, trotz seiner Pflegefamilienerfahrung oder vielleicht gerade deshalb, in allem weiter als die wütige Babymerve. Er tastet sich an der Wand entlang, kann schon stehen und gehen, wackelig
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