Eheroman (German Edition)
und tapsig. Er ist viel ruhiger und konzentrierter als Merve und kann fast alles besser als sie. Schwer auszuhalten für Ava. Aber man muss dem eigenen Kind ins Gesicht sehen. Dann sieht man das liebste Gesicht, lieber als das dünne Rotschopfgesicht von Johnny, dann ist es alles wieder in seiner Ordnung. Das ist das Maß der Dinge. Die Augen, die Nase, die Lippen, das Lächeln, das Weinen, das ist es, was einen durchbohrt und an einem Band durch die Tage zieht.
Seit Danilo den Job an der Uni hat – er arbeitet seinem Professor zu, dem Professor, von dem Ava den hellblauen Kinderwagen für Merve hatte –, seitdem ist er noch weniger zu Hause. Dort ist jetzt sein Zuhause, er arbeitet und diskutiert und trinkt tausend Tassen Kaffee und ist wohl ein besonders interessanter Typ für die frischen Studentinnen mit seinem riesigen, kroatischen Lockenkopf und seiner dicken Brille und seiner Klugheit. Dass er ein Kind und vor allem Ava hat, erzählt er vermutlich niemandem. Oder vielleicht doch. Ava weiß es nicht, Ava vermutet es nur, in Anfällen von Einsamkeit und Eifersucht.
Ava sitzt mit Merve in der Wohnung und überlegt sich eine interessante Beschäftigung. Sie blättert in Danilos Büchern, sie starrt aus dem Fenster über die Dächer der Stadt, draußen ist es grau und nieselt. Verkehrsgeräusche. Babymerve hält im staubigen Schlafzimmer in ihrem neuen Gitterbett ihr Mittagsschläfchen. Ava hat mit Merve, der Großen, ein Gespräch über die Dinge geführt, die sie schon alle versucht hat. Merve hat schon Unmengen von Dingen begonnen und wieder aufgehört. Sie hat Medizin studiert, sie hat eine Ausbildung als Zahnarzthelferin begonnen, sie hat einen Kurs zur Yogalehrerin mitgemacht, sich auf eine Prüfung zur Kunsthochschule vorbereitet, nackt in Performances eines Freundes mitgewirkt, im Museum Führungen gemacht, im Tierheim Nachtwache gehalten und vieles andere mehr. In ihrer Freizeit hat sie zeitweise gemalt, geschrieben und gesungen. Ava hat sich in langen, trägen Nachmittagen auf Merves Wohnzimmerteppich, zwischen Spielzeug und Kinderjoghurt, und während sie darauf achteten, dass Johnny und Merve sich nicht mit Gegenständen auf den Kopf hauten, von jeder einzelnen Erfahrung genau berichten lassen und war zu dem Schluss gekommen, dass es ihr an solchen Erfahrungen fehlt. In ihrem Dorf und ihrer Familie gab es bisher nur einen, der sich in solche Dinge, die außerhalb des Arbeitslebens lagen, hineinsteigerte, und das war ihr Vater. Ihr Vater kennt Hunderte von Gedichten auswendig, und seit kurzem weiß Ava, dass er auch selbst Gedichte verfasst. Es ist ihm gelungen, all die Jahre seine eigene Gedichtschreiberei vor den Mädchen geheim zu halten. Die Mummi wusste sicher davon. Dem Vater waren seine eigenen Gedichte peinlich gewesen oder zu viel wert, um sie den Kindern auszuliefern. Deshalb hatte er heimlich gedichtet und das Geschriebene verborgen. Seit beide Mädchen aus dem Haus sind, ist er vermutlich nachlässiger geworden, und Ava fand das Heft bei einem Besuch auf dem Klo auf einem Stapel Handtüchern. Dass der Vater noch auf dem Klo dichtete oder sich zumindest seine Gedichte zu Gemüte führte, das hatte ihr mit Petra zusammen Lachkrämpfe verursacht. Sie hatten das Geheimnis aber bewahrt und den Vater nicht darauf angesprochen. Die Gedichte waren sehr merkwürdig, fand Ava, jedenfalls die auf dem Klo. Sie handelten fast alle von der tragischen Liebe. Von der tragischen Liebe des Vaters zur Mummi etwa? Das kann Ava kaum glauben. Oder sollte der Vater sie an eine andere Frau gerichtet haben? Undenkbar.
Abgesehen vom Vater hatte es in Avas Leben keine so experimentierfreudigen Menschen gegeben wie Merve. Man lernte einen Beruf, übte ihn aus, kam abends nach Haus und sah nach dem Haushalt fern. Der Vater allerdings kam nicht abends nach Hause. Der Vater saß den ganzen Tag zu Hause rum und ließ seine Aktien für sich arbeiten. Seine Aktien hatte er geerbt. Sie warfen anscheinend nicht besonders viel ab, denn die Mutter kräuselte nur immer spöttisch ihre dicke Oberlippe, wenn die Rede darauf kam. Nur am Abend fuhr der Vater mit einer kunstledernen blauen Aktentasche in die Volkshochschule nach Buxtehude, um dort ein altmodisches deutsches Englisch zu unterrichten. Der Vater fuhr mit einem Schüler, der ihn abholte. Es fand sich meistens einer, dem der Vater ans Herz gewachsen war, der einen Umweg in Kauf nahm, um den Mr. Grünebach mitzunehmen, weil er sonst umständlich mit dem Bus hätte
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