Eheroman (German Edition)
fahren müssen. Das war sein ganzes Arbeitsleben und sein Beitrag zum Haushalt, abgesehen von seinem kümmerlichen Aktienerbe. Und deshalb hatte der Vater den lieben langen Tag Zeit, sich in Gedichte reinzufühlen und sich von den anderen Menschen wegzuentwickeln. Denn eines war im Dorf und ebenso in Avas Verwandtschaft immer klar gewesen: Der Vater ist ein Spinner.
Ava hatte nie wie der Vater werden wollen. Aber sie vermutet, dass einiges doch in sie eingewachsen ist, genetisch und auch durch all das, was der Vater Tag um Tag so feierlich herumspann. Wenn sie hört, wie Merve von den Berg-und-Tal-Fahrten ihrer kreativen und anderen Erfahrungen erzählt, dann kriegt sie solche Lust, auch etwas so Farbiges zu tun und sich auch solchen Herausforderungen zu stellen. Hier, in ihrer Wohnung, über den nassen Dächern, ist es so leer und so still. Dass Danilo jetzt noch mehr mit anderen Dingen und anderen Leuten beschäftigt ist als vorher, macht es nicht eben spannender zu Haus. Es ist an der Zeit, etwas Neues zu beginnen, denkt sie und kramt in sich und kann es einfach nicht herausfinden, zu was sie, Ava Grünebach, talentiert sein soll. Stulle, mit dem sie einst die Reise auf der Autobahn unternommen hatte, um grüne Tomaten abzuholen, Stulle hatte ihr erzählt, dass er sein Leben darauf ausrichtete, sich am Ende ein Segelboot zu kaufen und für eine Zeit auf das Meer zu verschwinden, er richtete sein Lkw-Leben aus wie einen Pfeil, ein Leben, um ein anderes Leben zu leben. Er hatte sie nach ihren Plänen gefragt, und sie hatte bemerkt, dass sie keine hatte. Und so ist es immer noch. Falls sie so etwas wie eine Begabung, einen Traum in sich trägt, dann nur ganz tief in sich drin. Sie hat immer gewusst, dass sie etwas Besonderes ist. Nicht einfach eine Krankenschwester. Nicht einfach eine Mutter. Nicht einfach eine Frau. Sie ist Ava, benannt nach Ava Gardner. Und dann wird ihr klar, was sie kann. Sie kann eine Schauspielerin sein. Sie ist noch nie eine Schauspielerin gewesen, sie hat noch nie auf der Bühne gestanden, sie hat noch nie eine Rolle auswendig gelernt, aber sie ist sich plötzlich sehr sicher: Sie ist die geborene Schauspielerin, sie hat es bisher nur noch nicht gewusst.
Sie stützt sich auf das Fensterbrett und murmelt Dialoge aus der «Barfüßigen Gräfin».
Als Danilo am Abend nach dem Essen fragt, hebt Ava den Deckel eines Topfes, in dem kalte Kartoffelsuppe ist. Es ist einundzwanzig Uhr, Danilo ist gerade nach Haus gekommen, Merve jammert in ihrem Bett, sie hat am Nachmittag zu lange geschlafen, während Ava im Wohnzimmer schauspielerte, und jetzt ist sie noch nicht so müde, dass sie während des Jammerns einschläft.
«Was hat sie denn?», fragt Danilo.
«Sie ist nicht müde.»
«Warum denn nicht?»
Ava rührt die Kartoffelsuppe um, die auf der heiß werdenden Platte steht. «Sie hat am Nachmittag zu lange geschlafen.»
«Aber dann wecken wir sie doch immer. Warum hast du sie nicht geweckt?»
Ava würde am liebsten sagen, «wir» wecken sie nicht. Ich wecke sie. Aber sie sagt es nicht. Sie sagt: «Ich habe es vergessen.» Und das ist die Wahrheit. Sie hat sich mit sich selbst und ihrer kreativen Zukunft beschäftigt und nicht daran gedacht, Merve zu wecken.
«Ich habe mir überlegt, mit dem Schauspielen anzufangen. In meiner Freizeit. Ich will mal etwas anderes machen», sagt Ava.
Danilo schweigt. Denkt er was dazu, oder ist es ihm egal? Ava ist schon klar, dass er ihren Gedanken nicht ernst nehmen wird, ihr kommt es selbst sehr albern vor, was sie sagt, aber Trotz lässt sie es doch sagen. Die Sache hat sie den ganzen Nachmittag beschäftigt, es ist ihr wichtig, sie muss es erzählen, sie hat den ganzen Tag nur Worte mit einer Einjährigen gewechselt. «Was sagst du? Das ist doch eine gute Idee, oder?»
Danilo setzt sich auf den Küchenstuhl, stellt seine Tasche neben das Tischbein, stützt seinen Arm auf den Tisch und sagt nach einer ganzen Weile, in der Ava sich vorzustellen versucht, was er denkt und was er antworten wird: «Mach doch. Wenn es dir Freude macht. Und wenn du da Zeit für hast.»
Ava setzt sich ebenfalls an den Küchentisch, obwohl Merve nebenan in ihrem Bettchen heult. Es kommt ihr jetzt dumm vor, was sie gedacht und gesagt hat. Wie ist sie darauf gekommen, dass sie eine Schauspielerin werden könnte? Weil sie Ava heißt, wie Ava Gardner? Das kommt alles vom Zu-Hause-Sitzen. Wo die Gedanken so wild herumfliegen können wie die des Vaters, weil er auch zu Hause rumsitzt
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