Ehrenhüter
Navideh zu der Familie der Getöteten?», überfiel sie Wessel und ließ mit dieser Behauptung ihren zweiten Ballon starten.
Der vertrauliche Ton zeigte Wirkung. «Nein, die beiden wollten nachmittags nochmal zum Bunker. Keine Ahnung, wo die sich jetzt rumtreiben», sagte Wessel gedehnt.
Sie plauderten noch einen Moment, dann verabschiedete sich Andrea. Sie schaute auf die Uhr. Ihre Verabredung für diesen Abend hatte sie schon abgesagt. Zu Hause wartete niemand auf sie. Ihr Magen knurrte, und sie brauchte dringend etwas zu essen, aber ihre Neugier überwog.
Andrea setzte ihren Artikel auf Blau, sodass der Spätdienst ihn redigieren und die Lektorinnen ihn lesen konnten. Dann schaltete sie das Licht in ihrem Büro aus. ‹Steenhoff kann mir keinen Vorwurf machen›, dachte sie zufrieden. Sie hatte alles unternommen, um ihn vorher noch um seine Meinung zu fragen.
Eine halbe Stunde später bog Andrea Voss mit ihrem Smart in die kleine Straße ein, an deren Ende sich düster der Bunker Valentin vor dem Nachthimmel aufbaute. Sie schaltete das Radio aus, um den Ort mit allen Sinnen aufzunehmen, und stieg am Eingang des Geländes für einen kurzen Moment aus ihrem Auto.
Schon tagsüber wirkte der Bunker bedrückend, doch nachts verströmte er eine geradezu unheimliche Aura. Unruhig musterte Andrea die Umgebung im Scheinwerferlicht ihres Autos. Weit und breit war niemand zu sehen.
Andrea gab sich einen Ruck, setzte sich wieder hinters Steuer und schlug den Weg zu dem kleinen Parkplatz ein. Bei dem Gedanken an die Gräueltaten, die sich hier vor einigen Jahren abgespielt hatten, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Unbewusst verriegelte sie die Türen und fuhr im Schritttempo weiter. Sie spürte, wie ihr Herz schlug. Warum saß sie nicht wie geplant mit ihrem neuen Freund in der Pizzeria und trank einen Pinot Grigio, statt Frank Steenhoff hinterherzujagen?
Sie wollte gerade wenden, als die Kegel ihres Scheinwerferlichts ein Auto erfassten. Der Wagen stand allein auf dem Parkplatz in der Nähe des kleinen Weserdeiches. ‹Vermutlich ein Hundebesitzer, der sein Tier noch ausführt›, dachte Andrea und beschloss, bei dem Auto zu drehen und den unwirtlichen Ort endlich zu verlassen.
Wenige Meter, bevor sie das Fahrzeug erreichte, erstarrte sie. Der Wagen auf dem Parkplatz gehörte zu Steenhoffs Dienststelle. Petersen und Steenhoff mussten noch hier sein.
Andrea spürte, wie sich ihr kalter Schweiß auf die Stirn legte. Sie fummelte ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Lagezentrums. Doch vor Aufregung vertippte sie sich. Zitternd gab sie die Nummer ein zweites Mal ein. Im selben Moment wurde sie für Sekundenbruchteile von einem Lichtstrahl geblendet, der sich im Rückspiegel brach. Erschrocken drehte sie sich um.
Ein Auto bog auf den Weg ein. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern raste es direkt auf sie zu.
17
Navideh riss sich erschrocken los. «Hast du das gehört?
»Sie tastete nach Steenhoffs Arm. Eine hilflose Geste, um sich zu vergewissern, dass zumindest hier, in dem dunklen Loch noch alles in Ordnung war – soweit man angesichts ihrer Lage überhaupt in solchen Kategorien denken konnte.
Doch, da draußen hatte jemand geschrien. Eine Frau. Da war sich Navideh sicher. Und sie hatte keinen Zweifel daran, dass die Unbekannte Todesangst ausstand.
Vergeblich suchten ihre Hände nach Steenhoff. «Frank?»
«Ich bin hinter dir.» Seine Stimme vibrierte vor Anspannung. Er stand auf. «Was ist da draußen los?»
Sie hörten ein schabendes Geräusch, dann einen dumpfen Aufprall und einen Fluch.
Erneut versuchte Steenhoff, die glatten Wände hochzuklettern. Seine Hände glitten über die kühlen Erdschichten. Plötzlich ertasteten seine Finger einen Stein, der aus dem Erdreich ragte. Steenhoffs Herz schlug schneller, als er in Höhe seines Kopfes auch eine Baumwurzel fühlte. Mit aller Kraft zog er sich hoch. Seine Fingerspitzen spürten einen Vorsprung rechts von seinem Oberkörper. Aber er brauchte einen zweiten Haltepunkt, um weiterzuklettern. Die Wurzel, die er zu fassen bekam, war dünn. Er hatte keine Wahl. Vorsichtig zog er sich hoch. Im selben Augenblick bröckelte der Vorsprung, auf dem sein ganzes Gewicht lag, unter seinen Schuhen weg, und er rutschte ab.
Der Aufprall war hart. Härter als beim ersten Sturz. Aber Steenhoff schenkte seinem schmerzenden Rücken keine Beachtung. Sofort war er wieder auf den Beinen. Da draußen wurde vielleicht gerade eine Frau ermordet, und sie
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