Ehrensache
der
Nachrichtenredaktion hatte ihm die Adresse gegeben, als er danach gefragt hatte. Aber er hatte
erst danach gefragt, nachdem man ihm gesagt hatte, dass Kemp heute seinen freien Tag hätte. Die
Frau hatte ihm zunächst die Privatnummer des Reporters gegeben, und als Rebus an den ersten drei
Ziffern erkannte, dass Kemp in der Nähe wohnen musste, hatte er um die Adresse gebeten.
»Die hätten Sie genauso gut im Telefonbuch nachschauen können«, sagte sie, bevor sie
einhängte.
»Vielen Dank auch«, sagte er in den toten Hörer.
Die Wohnung lag im zweiten Stock. Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage neben der Eingangstür
des Mietshauses und wartete. Und wartete. Hättest lieber erst anrufen sollen, John. Doch dann
ertönte ein Knistern und nach dem Knistern: »Ja?« Die Stimme klang völlig groggy.
Rebus sah auf seine Uhr. Viertel vor zwei.
»Ich hab Sie doch nicht etwa geweckt, Chris?«
»Wer ist da?«
»John Rebus. Springen Sie in Ihre Hose, dann lad ich Sie zu einer Pastete und einem Pint
ein.«
Ein Stöhnen. »Wie spät ist es?«
»Gleich zwei.«
»O Gott... Vergessen Sie das mit dem Alkohol, ich brauch Kaffee. An der Ecke ist ein Laden.
Könnten Sie vielleicht Milch holen? Ich setz den Kessel auf.«
»Bin in zwei Sekunden zurück.«
Die Sprechanlage verabschiedete sich knisternd. Rebus ging Milch holen, dann drückte er erneut
auf den Klingelknopf. Hinter der Tür ertönte ein lautes Summen. Er drückte sie auf und betrat das
düstere Treppenhaus. Als er im zweiten Stock ankam, keuchte er und wusste wieder ganz genau, was
ihm an Patience' Souterrainwohnung so gut gefiel. Die Tür zu Kemps Wohnung stand einen Spalt
offen. Ein zweiter Name war mit Tesafilm an der Tür befestigt worden, direkt unter dem von Kemp.
V. Christie.
Die Freundin, nahm Rebus an. Ein einzelnes Rad eines Fahrrads, dem der Reifen fehlte, lehnte im
Flur an der Wand. Außerdem stapelten sich dort Dutzende von Büchern zu hohen, wackeligen Türmen.
Er ging auf Zehenspitzen daran vorbei.
»Der Milchmann!«, rief er.
»Hier drinnen.«
Das Wohnzimmer war am Ende des Flurs. Es war zwar groß, trotzdem war fast überhaupt kein Platz.
Kemp, der das T-Shirt von letzter Woche und die Jeans von der Woche davor trug, fuhr sich mit den
Fingern durch die Haare.
»Morgen, Inspector. Gut, dass Sie mich geweckt haben. Ich bin nämlich um drei mit jemandem
verabredet.«
»Schon verstanden. Ich kam zufällig vorbei und...«
Kemp warf ihm einen ungläubigen Blick zu, dann machte er sich am Spülbecken zu schaffen, wo er
sich heftigst bemühte, die Flecken an den Rändern von zwei Kaffeebechern wegzuschrubben. Der Raum
diente als Wohnzimmer und Küche zugleich. Vor dem Kamin stand ein schöner alter Kochherd, der
allerdings nur noch als Stellfläche für Topfpflanzen und dekorative Schachteln benutzt wurde.
Gekocht wurde auf einem fettverschmierten Elektroherd neben dem Spülbecken. Auf dem Esstisch
stand ein Computer sowie Kartons voller Papier und Ordner, und neben dem Tisch war ein grüner
Aktenschrank aus Metall, vier Schubladen hoch, deren unterste herausgezogen war und noch mehr
Ordner enthielt. Fast überall auf dem Fußboden waren Bücher, Zeitschriften und Zeitungen
gestapelt, aber zumindest war noch Platz für ein Sofa, einen Sessel, Fernsehen plus Videorecorder
und eine Stereoanlage.
»Gemütlich«, sagte Rebus und glaubte, es auch ehrlich zu meinen. Doch Kemp drehte sich um und zog
eine Grimasse. »Eigentlich sollte ich heute hier aufräumen.«
»Viel Spaß.«
Kaffeepulver wurde in Becher gelöffelt und darauf Milch gekippt. Der Kessel fing an zu kochen und
schaltete sich automatisch aus. Kemp goss das heiße Wasser in die Becher.
»Zucker?«
»Nein danke.« Rebus hatte sich auf die Sofalehne gesetzt, als wollte er sagen: Keine Angst, ich
bleib nicht lange. Er nahm seinen Becher mit einem Nicken entgegen. Kemp ließ sich in den Sessel
fallen und trank gierig an dem Kaffee, verzog jedoch sogleich das Gesicht, weil er sich Mund und
Kehle verbrannt hatte.
»Mein Gott«, sagte er keuchend.
»Harte Nacht?«
»Harte Woche.«
Rebus schlenderte auf den Esstisch zu. »Alkohol ist was Furchtbares.«
»Kann schon sein, aber ich rede von Arbeit.«
»Oh. Tut mir Leid.« Er wandte sich vom Esstisch ab und ging zum Spülbecken rüber... zum Herd...
und schließlich zum Kühlschrank. Kemp hatte die Packung Milch auf dem Kühlschrank stehen lassen,
neben dem Kessel. »Die stell ich besser weg«, sagte er und nahm die Packung.
Weitere Kostenlose Bücher