Ehrensache
Grund, Rebus alles zu erzählen.
Rebus würde ihm ja auch nichts erzählen, was er seiner Meinung nach nicht wissen sollte. Ein
halbe Minute lang saßen sie schweigend da, weder Freunde noch Feinde, eher wie Soldaten am
Weihnachtstag im Schützengraben während der Ruhe vor dem Sturm. Jeden Augenblick könnten die
Sirenen losgehen und Granatsplitter den Frieden zerstören.
Rebus fiel ein, dass er eines auf jeden Fall wüsste, was Kemp zu gern wissen wollte,
nämlich wie Ronald Steele an seinen Spitznamen gekommen war...
»Also«, sagte Kemp, »warum war er dort?«
»Weil ihm jemand erzählt hatte, seine Schwester würde dort arbeiten.«
Kemp kräuselte die Lippen.
»Als Prostituierte arbeiten«, erklärte Rebus. »Jemand hat ihn - anonym - angerufen und es ihm
gesagt. Deshalb ist er hingegangen.«
»Das war dumm.«
»Find ich auch.«
»Und war sie dort?«
»Ja. Sie nennt sich Gail Crawley.«
»Wie schreibt man das?«
»C-r-a-w-l-e-y.«
»Und Sie sind sich dessen sicher?«
»Ja, ganz sicher. Sie ist immer noch in Edinburgh, arbeitet immer noch als Prostituierte.«
Kemp sprach mit ruhiger Stimme, doch seine Augen leuchteten. »Ihnen ist doch klar, dass das eine
Geschichte ist?«
Rebus zuckte die Schultern und schwieg.
»Sie wollen, dass ich sie bringe?«
Ein weiteres Schulterzucken.
»Warum?«
Rebus starrte auf den leeren Becher in seinen Händen.
Warum? Sobald es allgemein bekannt war, hatte der Anrufer oder die Anruferin das angestrebte Ziel
nicht erreicht. Und wenn dieser Versuch gescheitert war, würde der- oder diejenige sich
vielleicht gezwungen fühlen, etwas anderes zu probieren. Und dann wäre Rebus bereit...
Kemp nickte. »Okay, danke. Ich werde darüber nachdenken.«
Rebus nickte ebenfalls. Er bedauerte bereits, dass er sich entschieden hatte, es Kemp zu sagen.
Der Mann war Reporter, und zwar einer, der sich einen Namen machen wollte. Es war nicht
vorhersehbar, was er mit der Geschichte anstellen würde. Je nachdem, wie man sie drehte, könnte
Jack wie ein Samariter oder wie ein Dreckskerl dastehen...
»Und jetzt sollte ich schnell baden«, sagte Kemp und erhob sich aus seinem Sessel, »damit ich
pünktlich zu dieser Verabredung komme...«
»Okay.« Rebus stand ebenfalls auf und stellte seinen Becher ins Spülbecken. »Danke für den
Kaffee.«
»Danke für die Milch.« Das Badezimmer lag auf dem Weg zur Wohnungstür. Rebus sah demonstrativ auf
seine Uhr. »Gehen Sie ruhig schon ins Bad«, sagte er. »Ich find allein raus.«
»Bis dann.«
»Bis bald, Chris.« Er ging zur Tür, achtete darauf, ob die Dielen unter seinem Gewicht knarrten,
dann drehte er sich um und sah, dass Kemp im Badezimmer verschwunden war. Wasser fing an zu
plätschern. Behutsam drehte Rebus den Schlüssel, damit sich der Riegel vorschob und die Tür nicht
ins Schloss fallen konnte. Dann öffnete er die Tür und knallte sie laut hinter sich zu. Er
drückte sich im Treppenhaus an die Wand und hielt die Tür an der Klinke fest, damit sie nicht
wieder aufging. In der Tür war ein Spion, doch Rebus blieb an der Wand stehen. Falls Kemp zur Tür
kam, würde er allerdings merken, dass der Riegel vorgeschoben war... Eine Minute verstrich.
Niemand kam zur Tür. Zum Glück kam auch niemand ins Treppenhaus.
Er hätte nur ungern erklären mögen, wieso er da stand und sich an einer Türklinke
festhielt...
Nach zwei Minuten bückte er sich, öffnete den Briefschlitz und schaute in den Flur. Die
Badezimmertür stand einen Spalt auf. Das Wasser lief immer noch, doch er konnte Kemp summen hören
und dann, wie er unter lautem Hie und Ha in die Wanne stieg. Das Wasser lief weiter und gab ihm
die Geräuschkulisse, die er brauchte. Leise öffnete er die Tür, schlüpfte wieder in die Wohnung,
schloss die Tür und klemmte sie mit einem dicken Buch von einem der Stapel fest. Die übrigen
Bücher gerieten ins Wanken, blieben aber stehen. Rebus atmete erleichtert aus und schlich sich an
der Badezimmertür vorbei den Flur entlang.
Das Wasser lief... Kemp summte immer noch. Das war der einfachere Teil. Wieder hinauszukommen
würde sehr viel schwieriger werden - falls er nichts vorzuweisen hatte, was sein
Täuschungsmanöver rechtfertigte.
Er durchquerte das Wohnzimmer und untersuchte den Schreibtisch. Die Akten gaben nichts her. Keine
Spur von der »großen Geschichte«, an der Kemp arbeitete. Die Computerdisketten waren mit Nummern
gekennzeichnet - das half ihm auch nicht weiter. Nichts Interessantes in der offenen Schublade
des
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