Ehrensachen
Ländern Juden nicht für Menschen hielten. Also mußten wir alle uns gegen Antisemitismus zur Wehr setzen. Einem für unsere Beziehung ganz ungewöhnlichen Impuls folgend erzählte ich meinen Eltern an einem Wochenende zu Hause von Mr. Ticknor und seinen Ansichten. Das war vor den Osterferien und vor meinem Gespräch mit Mr. Hibble. Sie sagten nicht, daß Mr. Ticknors Meinung falsch sei. Ich wußte nicht einmal, ob sie überhaupt zuhörten. Als ich jedoch bei meinem nächsten Besuch mit meinem Vater zum Club fuhr, bemerkte er auf einmal ganz nebenbei, daß man Menschen auf keine Weise zwingen könne, einander zu lieben. Viele Leute würden Juden einfach nicht schätzen und nichtum sich haben wollen. Selbst wenn sie wohlerzogen und achtbar seien. Dasselbe gelte für Neger und Katholiken, besonders irische und italienische Katholiken. Gummy – das war der Spitzname des Clubpräsidenten Mr. Gifford Upton Morris – zum Beispiel habe geschworen, daß er nie einem Juden gestatten werde, den Club zu betreten. Natürlich werde kein Jude, der einer Einladung in den Club würdig sei, dem Präsidenten und gewissen Mitgliedern seine Anwesenheit zumuten wollen. Im übrigen könne er sich nicht denken, fuhr mein Vater fort, daß ein Jude eine Stelle in der Bank oder in der Geschäftsleitung der General-Electric-Niederlassung in Pittsfield bekommen könne, und schon gar nicht in der großen Papierfabrik in Dalton. Ich fragte, ob er das für fair halte. Er zuckte die Achseln und erklärte mir, daß Gewalt – Deutsche, die Juden umbrachten, oder Südstaatler, die Neger lynchten – eine Sache sei, daß aber die Möglichkeit, sich aussuchen zu können, mit wem man Golf spiele oder arbeite, auf einem anderen Blatt stehe. Außerdem, fügte er hinzu, gibt es viele Juden, die nur Juden einstellen und lieber mit ihnen arbeiten. Zur Antwort zuckte auch ich die Achseln. Mit meinen Eltern konnte man nicht ernsthaft diskutieren. Sie hatten anderes im Kopf. Außerdem hätte ich zwar gern gesagt, daß er alles ganz falsch sehe, aber trotzdem sprach einiges für seinen Standpunkt, besonders wenn der betreffende Jude unausstehlich war. Davon gab es sicher viele. Henry allerdings war ganz anders. Ich hätte ihn gern in den Club mitgenommen und Gummy vorgestellt, aber wie konnte ich ihn nach Lenox einladen, da ich doch wußte, daß er nicht allseits willkommen wäre, sobald die Wahrheit über ihn offengelegt würde, und da ich außerdem fürchten mußte, daß meine Eltern wieder einmal großen Krach miteinander hatten? Henry spielte nicht Tennis, aber er könnte sich am Pool aufhalten, vorausgesetzt, er hatte eine passende Badehose. Irgend jemand in der Schule hattemir erzählt, alle Juden trügen zum Schwimmen Hosen, die eng anlagen wie Jockey-Shorts, um Eier und Schwanz zu zeigen.
Zur Frage, ob Henry als Nichtjude durchgehen wollte, hatte ich mir überlegt, daß er zwar mir reinen Wein eingeschenkt hatte, es aber wahrscheinlich doch vorzog, die Leute denken zu lassen, er sei Christ wie sie. Das war seine Sache. Ich fand es nicht großartig, konnte es ihm aber nicht anlasten. Archie ging es sicherlich genauso. Wie Henry es schaffen würde, Antworten auf Fragen nach seinem Akzent und seiner Vergangenheit ohne eindeutige Lügen zu geben, war ein anderes Problem, und auch das ging nur ihn etwas an. In diesem Zusammenhang kam mir der Verdacht, daß auch ich ein bißchen versuchte, als ein anderer durchzugehen. Was sonst tat ich, wenn ich die Leute glauben ließ, ich sei der Sohn meiner Eltern, mitsamt den Vorteilen, die einer hatte, der Standish hieß und nicht Nowak oder Maloney? Natürlich waren wir nicht in der gleichen Situation, denn ich hieß wirklich Standish, einen anderen Namen hatte ich nicht. Trotzdem war es nicht weit von der Wahrheit entfernt, Henry und mich als Waffenbrüder zu bezeichnen.
Ungefähr eine Woche später kamen wir beim Abendessen in der Mensa wieder auf das Thema zurück, das Henry seinen »Judismus« nannte. Ich fragte ihn ganz direkt, ob seine Eltern recht hätten. Ob er versuche, kein Jude mehr zu sein?
Das gibt es nicht, sagte er. Du wirst als Jude geboren, und als Jude stirbst du. Hitler hat es bewiesen.
Ich sagte, das sei nicht wahr. Juden konvertierten – als Beispiel nannte ich die New Yorker Juden in meiner Schule, die, wie ich glaubte, übergetreten waren. Jedenfalls kamen sie zum Gottesdienst. Oder vielleicht war die Konversion schon von einer früheren Generation vollzogen worden.
Siehst du, lachte er,
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