Ehrensachen
leidenschaftlicher spanischer Gesang. Die dunkle Frauenstimme erhob sich zu schwindelerregenden Höhen und fiel dann abrupt in tiefe Lagen. Sie wurde begleitet von einer Gitarre, rhythmischem Stampfen und Händeklatschen. Die fremdartige Musik fesselte mich. Die nächste Schallplatte war ähnlich, und wieder lauschte ich aufmerksam. Ein drahtiger Mann mit sehr schwarzem Haar kam auf mich zu und sagte: Das ist Flamenco, Zigeunergesang aus Südspanien. Ich sammle Flamenco-Aufnahmen. Du kannst gern vorbeikommen und sie dir anhören, wann immer du willst. Übrigens, ich bin Mario Delgrado. Du mußt einer von Archies Mitbewohnern sein, der, der nicht aus Polen kommt. Marios Akzent war so elegant wie sein marineblauer Blazer und ganz anders als der Singsang von Archies übrigen Latino-Freunden.
Ich erklärte ihm, daß er aus Argentinien sei, könne man nicht hören. Kaum hatte ich dies gesagt, war mir klar, wie dumm und provinziell meine Bemerkung war. Ich murmelte eine Entschuldigung.
Schon gut, erwiderte er, niemand kann mich einordnen, und alle fragen. Das kommt davon, daß ich auf eine englische Schule geschickt wurde, aber ein paar Jahre zu spät. Komm, du brauchst was zu trinken.
Er führte mich zu einem Tisch, der als Bar diente, und verabschiedete sich gewandt. Ich sah Henry und Archie immer noch an der Tür stehen in einer Gruppe von Gästen, die in dem Lärm einander zu übertönen versuchten. Ich wollte mich nicht zu ihnen durchdrängeln. Statt dessen ging ich zurück zum Fenster. Unterwegs inspizierte ich zuerst den Inhalt der Bücherregale, der sich als enttäuschend erwies, und dann die Poster an den Wänden: Reklame für Dubonnet, das Kasino in Biarritz, französische Filme und natürlich das Moulin Rouge. Gleichzeitig machte ich eine Bestandsaufnahme der Gäste. Die Mädchen waren alle sehr groß. Vielleicht waren sie danach ausgesucht. Ein paar erkannte ich wieder, wahrscheinlich, weil ich sie in der Bibliothek angestarrt hatte. Die anderen waren womöglich für dieses wichtige Wochenende aus dem Wellesley, Smith, Vassar oder Sarah Lawrence College oder noch weiter entfernten Bezugsquellen importiert. Die Männer schienen in der Mehrzahl Ausländer zu sein. Wie Mario trugen sie Tweedjacken oder Blazer, zu schön, um unauffällig zu sein. Die Amerikaner, alle ältere Kollegiaten, hatten Krawatten der drei oder vier feinsten Clubs. Blond und gelassen, waren sie allesamt Produkte jener Internate, die für den Nachschub am Harvard College sorgten, eine Spezies, die mir im großen und ganzen vertraut war, nur daß ihre bei Mario versammelten Vertreter auf der Skala der Vollkommenheit ganz oben standen. Ich warf noch einen Blick auf Archie und Henry. In ihrer Gruppe waren nur Ausländer, also Rugbyspieler. Es war nicht zu übersehen, daß meine beiden Mitbewohner nicht in diese Umgebung paßten; um es brutaler auszudrücken: Sie sahen skurril aus. Nicht nur, weil sie falsch angezogen waren und Henry außerdem einen häßlichen Haarschnitt hatte, zu kurz und mit weißen Stellen über den Ohren. Auffallend war vor allem ihr Gesichtsausdruck. Weder wirkten sie so gelassen höflich und selbstzufrieden wie die Clubstudenten, die überzeugt waren, den Rang einzunehmen, der ihnen nach göttlichem Recht zustand, noch hatten sie die gutmütige Jovialität der Ausländer. Archie wirkte allzu beflissen, zu eifrig darauf bedacht, sich beliebt zu machen; Henry war nervös und konnte es nicht verbergen.
Gut eine halbe Stunde war vergangen, seit Mario mir zu meinem Martini verholfen hatte, und ich war mit niemandem außer ihm ins Gespräch gekommen. Ich fragte mich, wie lange ich noch mit Anstand auf meinem selbstgewählten Posten ausharren konnte, ohne mir wieder einen Drink zu bestellen oder sonst etwas zu unternehmen, das meine Mauerblümchenrolle etwas vertuschen würde. Ich hatte auch meine Zweifel, ob Margot überhaupt erscheinen werde, und wenn ja, ob Archie es schaffte, die beiden einander vorzustellen. Daß er sie tatsächlich kennengelernt hatte, glaubte ich nicht; wahrscheinlich hatte er sie nur beobachtet und sich bei anderen nach ihrem Namen erkundigt. Als ich mich zur Bar aufmachte, sah ich Margot am Arm meines Cousins George hereinkommen. Daß ich ihm ausgerechnet bei dieser Gelegenheit zum erstenmal seit unserer Ankunft in Cambridge über den Weg laufen würde, entsprach nicht gerade meinen Wünschen, löste aber das Problem, das mich schon länger beschäftigt hatte: Ich würde Hallo zu meinem Cousin
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