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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Begley
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Nase zu groß für das Gesicht war, und sie gab sich alle Mühe, nett zu sein. Während der nur minutenlangen Fahrt zum Standish-Haus schaffte sie es, George auf dem Fahrersitz zu streicheln, Henry aufmunternd zuzuzwinkern, mich als einen besonderen Freund auszuzeichnen und nebenher lässig Kommentare über die Norman-Rockwell-Winterlandschaft abzugeben. Ich schloß daraus, daß die gelangweilte Blasiertheit, die mich auf Marios Party so abgestoßen hatte, vielleicht nur ihre Cocktailparty-Pose gewesen war.
    Die Eltern Standish empfingen uns an der Tür. Mrs. Standishs Einladung zum Tee lehnte ich ab mit der Begründung, wenn ich noch zu meinen Eltern nach Lenox fahren, mich umziehen und rechtzeitig zu einem Drink vor der Party wieder bei ihnen sein wolle, müsse ich mich sofort auf denWeg machen. Oh je, erwiderte sie, vielleicht hast du recht; die Straßen sind so furchtbar glatt. Bitte grüß deine lieben Eltern von Jack und mir. Ihre Weihnachtskarte hat uns so gefreut!
    In Wahrheit war mir der Straßenzustand absolut gleichgültig, und ich brauchte auch nicht besonders viel Zeit, um in meine Smokingjacke zu schlüpfen, aber ich hatte das Gefühl, ich müsse Abstand gewinnen und einen klaren Kopf bekommen, bevor ich mich wieder der Großfamilie aussetzte: Mrs. Standish, Mr. Standish, Georges beiden Schwestern und deren Ehemännern, der eine ein New Yorker Bankier, der andere ein New Yorker Anwalt. Wie alle Jungen und Mädchen aus der Gegend, die in meinem Alter oder jünger waren, hatte ich Mr. Standish immer als herrisch und bedrohlich empfunden. Laut George war dieses Verhalten nur Selbstverteidigung, dahinter verberge er ein sanftes, sehr schüchternes Wesen; der wahre Drachen sei seine Mutter. Das konnte ja sein, aber in meiner gegenwärtigen Lage hatte der Anschein mehr Bedeutung als eine verborgene Realität. Mir war Mrs. Standishs Gesicht lieber, es wirkte ruhig wie ein Antlitz aus dem 18. Jahrhundert und schien geprägt von einer Mischung aus tiefer Müdigkeit und Mitgefühl. Dazu kam, daß sie sich nicht nur an meinen Namen erinnerte. Sie schien mich wirklich zu bemerken. Als wir uns nach meiner Rückkehr aus Frankreich beim letzten Nachmittagskonzert der Saison in Tanglewood begegneten, hatte sie mir sogar angeboten, ich solle May zu ihr sagen; das hatte mich sehr überrascht, und ich brachte weder diese Anrede über die Lippen, noch konnte ich sie »Cousine May« nennen – eine Alternative, die meine Mutter mir empfohlen hatte, als ich ihr den Vorfall berichtete.
    Ich hatte mir Sorgen gemacht, wie Georges Eltern reagieren würden, wenn er ihnen von unserer engen Freundschaft und seiner offenbar hohen Meinung von mir erzählte; ichhoffte, daß sie keine Notwendigkeit gesehen hatten, ihm zu sagen, unsere Freundschaft sei unpassend. Ein gewisser Trost lag in dem Gedanken, daß sie ihre möglichen Einwände nur schwer begründen konnten, ob sie nun wußten oder nicht, daß ich ein Kind der Sünde war, denn welchen Unterschied sollte meine uneheliche Geburt machen, da doch Lucy Butler in Tyringham überall eingeladen wurde, obwohl alle wußten, daß sie das Adoptivkind des alten Dr. Butler und seiner Frau war? Falls ich allerdings ein dunkles Geheimnis der Familie war, eine Leiche in ihrem Keller sozusagen, konnten ihre Gefühle sehr heftig sein. Aber würden sie es wagen, die Leiche auszugraben, nur um Georges und meine Kumpanei zu beenden? Gegen mich als Person konnten sie, soweit ich wußte, nichts einwenden, allenfalls, daß manche meiner Altersgenossen mich für eingebildet hielten, womit sie hoffentlich nur meinten, ich sei zu sehr an Literatur interessiert. Daß ich eine Memme wäre, konnten sie nicht sagen; das konnte niemand behaupten. Blieb nur, mich wegen meiner Eltern zu disqualifizieren. Aber selbst wenn Mr. und Mrs. Standish den Ruf meiner Eltern für so miserabel hielten, wie ich befürchtete, konnte ich doch nicht glauben, daß sie George das sagen wollten; und wenn sie es taten, würde er bestimmt erklären, was meine Eltern anstellten, sei nicht sein Problem. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, daß ich ohnehin eine leicht hysterisch eingefärbte Vorstellung von meinem Status in den Berkshires besaß, die sich seit Mr. Hibbles Eröffnung nur verstärkt hatte. Ich mußte diese widersprüchlichen Gedanken ordnen, zumal mir, falls die weniger pessimistische Variante zutraf, die Tore des Standish-Herrensitzes – meiner Meinung nach verdiente ihr Anwesen diese Bezeichnung – im

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