Ehrensachen
eine unangreifbare gesellschaftliche Stellung erleichtern es, sich der Meinung anderer zu widersetzen.
Genau wie Henry hatte auch ich zu meiner Überraschung allen Grund, viel von George zu halten. Als er auf der Party vorschlug, wir sollten Freunde werden, hatte ich gefürchtet, das sei nur eine unverbindliche Floskel, aber er machte seine Ankündigung wahr und lud mich schon am nächsten Tag zum Lunch in das chinesische Restaurant in der Oxford Street ein. Von da an trafen wir uns regelmäßig, vor allem, da wir im selben Kurs über englische Literatur saßen und er Mühe hatte mit dem obligatorischen wöchentlichen Essay über ein Buch auf der Leseliste. Oft wollte er sich mit mir treffen, weil er meine Hilfe bei seinem Aufsatz brauchte. Und sonst redeten wir über die Berkshires. Wir kannten dieselben Leute, manchmal allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich entschloß mich, ihm zu erzählen, was Mr. Hibble über meine Adoption gesagt hatte. George schüttelte den Kopf und sagte: Der Mann ist verrückt. Senil, meine ich. Das denkt Vater, und er muß es wissen. Hibble erledigt alle juristischen Arbeiten für die Familie.
Ich erwiderte, daß mein Vater mit Freuden hören würde, was Mr. Standish von Mr. Hibble hielt, aber die Adoptionsgeschichte hätten meine Eltern bestätigt. Sie müsse wahr sein. George verstummte. Ich versuche, mir einen Reim darauf zu machen, sagte er nach einer Weile. Irgendwas ist faul an der Sache, warum würde mein Großvater sich sonst so engagieren. Und gleich einen Trust einrichten! Ich glaube, ich verstehe den Grund. Meine Schwestern sind älter, und du bist ein Jahr jünger als ich. Das vereinfacht die Sache: Als du geboren wurdest, waren Mutter und Vater schon sechs oder sieben Jahre verheiratet. Großvater war höchstens fünfundsechzig und bei guter Gesundheit. Stell dir vor, du könntest mein Onkel sein! Meiner Schwestern und mein Onkel! Oder unser Halbbruder. Meine Mutter sagt immer, daß Vater vor der Hochzeit ein wildes Leben führte. Vielleicht war das danach noch weitergegangen. Was hältst du davon?
Ich gestand ihm, daß ich nach dem Treffen mit Mr. Hibble eine Zeitlang fast ausschließlich über die Adoption nachgedacht hatte und zu dem Schluß gekommen war, daß es keinen Grund zu einer solchen Annahme gab. Wenn man Geld hatte, konnte man ohne Mühe eine Abtreibung arrangieren. So wäre man in deiner Familie vorgegangen. Eher wird es so gewesen sein, daß dein Großvater eine junge Frau kannte – vielleicht war sie in seiner Bank angestellt, vielleicht die Tochter eines Angestellten, vielleicht ein Dienstmädchen, vielleicht die Tochter eines Freundes –, die Pech gehabt und zu lange gewartet hatte. Also griff dein Großvater ein und löste das Problem des Mädchens mit Großzügigkeit. Zugleich tat er seinem Neffen und dessen Frau einen Riesengefallen.
Vielleicht, sagte George. Aber die Familienähnlichkeit? Was sagst du dazu?
Ich erwiderte, diese Ähnlichkeit teile die Familie mit der Hälfte der angelsächsischen Bevölkerung in den Berkshires, die Standishs hätten keine ausgeprägten besonderen Merkmale. Jedenfalls könne er sich auf eines verlassen: Sein Vater habe nichts damit zu tun. Der hatte nie in irgendeiner Weise auf mich geachtet, zwar schien er zu wissen, wer ich war, aber meinen Vornamen hatte er sich bestimmt nicht gemerkt.
Wir einigten uns darauf, daß wir das Rätsel nicht lösenkonnten. Als ich meinte, womöglich sei es nur gut, die Antwort nicht zu kennen, stimmte er zu, sagte aber, womöglich werde er sich von nun an trotzdem vorstellen, ich wäre sein jüngerer Bruder und nicht sein Onkel – das sei natürlicher. Wir waren uns auch in einem Punkt von praktischer Bedeutung einig: Wir würden niemandem, einschließlich seiner Eltern und Schwestern und meiner Eltern, etwas von unserem Gespräch erzählen. Das versprach er mit feierlichem Ernst; und ich war erleichtert, nicht nur, weil ich Mr. Hibble mein Wort gegeben hatte. Mit George zu sprechen war berechtigt und fair, wenn wir Freunde sein wollten. Aber wir wollten beide weder Spannungen mit seinen Eltern – falls sie wirklich nicht Bescheid wußten – noch mit meinen, und wir wollten nicht, daß es in der Gerüchteküche der Berkshires zu brodeln begann.
Die Sonne war schon untergegangen, als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr. Nur eine Tür öffnete sich. Wir liefen hin, um Margot beim Aussteigen zu helfen und ihr das Gepäck abzunehmen. Ja, sie war schön, auch wenn ihre
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