Ehrensachen
Recht, daß dies eine andere, breiter gefächerte Sicht der Welt sei, und war glücklich und etwas ängstlich zugleich. Mir ging es genauso. Ich befand mich in einem Gelände, in dem ich theoretisch festen Boden unter den Füßen haben mußte, denn ich besuchte nur Vettern und Cousinen. Sie waren nur wenige Schritte entfernt, diese eindrucksvollen Verwandten, Mrs. Standish, matt lächelnd, und Mr. Standish, übers ganze Gesicht strahlend, herrlich anzusehen in Frack und Schleife. Hereinspaziert, mein Junge, donnerte er, ohne zu warten, bis Mrs. Standish ihm meinen Namen zuflüsterte, ich sehe, du hast ein Glas Schampus, trink noch eins – ohne eine Atempause winkte er dem Diener –, und sag deinen Cousinen und ihren Herrn und Meistern guten Tag. Du trugst noch kurze Hosen, da waren sie schon aus dem Nest geflogen! Ich machte mich auf den Weg, wie geheißen, küßte Mrs. Standishs Wange, als sie mir zugewendet wurde, nahm noch ein Glas – offenbar wurden die Gläser ausgewechselt, nicht nachgefüllt – und richtete die Grüße meiner Eltern aus. Ja, ja, ja, dröhnte Mr. Standish wieder, jetzt komm schon.
Joanie und Millie schlugen dem Vater nach. Folglich hatten sie genau wie er, wie George, mein Vater, und, das muß gesagt sein, auch wie ich, schmutzig blondes krauses Haar, dem mit Kamm und Bürste nicht beizukommen war, sie waren drahtig wie wir, hatten die gleichen strammen Beine unddas knochige Gesicht, das Mr. Standish und meinem Vater ein unbestreitbar hohlwangiges Aussehen verlieh. Vielleicht kam diese Deformation erst im Alter zum Vorschein. Sie waren nette Frauen, lebhaft und höflich wie ihre Männer, und sie schwatzten ununterbrochen.
George und seine Gäste standen in der Bibliothek, Margot mit dem Rücken zum Feuer. Sie sagte, sie sei durchgefroren; das heiße Bad habe ihr die Kälte nicht aus den Knochen getrieben. Sie trug ein langes, leuchtend rotes Samtkleid und rote Seidenschuhe. Ihr Anblick war bestimmt eine Freude für Mrs. Standish. Mich beeindruckte Henrys Aufmachung. Archie hatte ihn überredet, die zweireihige Smokingjacke, die seine Mutter ihm bei Altman’s gekauft hatte, zu Keezer’s zu tragen und gegen ein altmodisches Brooks-Brothers-Modell mit spitzen, übertrieben ausladenden Revers einzutauschen, ein Teil ungefähr im Stil meines Vaters, das vom ersten Besitzer offenbar liebevoll gepflegt worden war. Dazu hatten sie ein seidenes Frackhemd erworben, das mit dem Alter eine dunkle Elfenbeinfarbe angenommen hatte. Um Henrys Verwandlung den letzten Schliff zu geben, hatte Archie ihm gezeigt, wie man eine Fliege locker bindet, so daß sie lässig hängt wie der Schnurrbart eines Südstaatenoffiziers. Die Jacke war Henry etwas zu groß und verstärkte den Anschein von Nonchalance. Sein Gesicht war gerötet – wohl vom Champagner und von der Aufregung zugleich –, er gestikulierte beim Reden und brachte Margot und George zum Lachen. Mir war klar, wie bewußt er wahrnahm, daß seine Teilnahme an diesem Fest sehr ungewöhnlich war. Trug dieses Bewußtsein dazu bei, daß er in Hochstimmung war und sich amüsierte? Oder überwand er auf diese Weise seine Beklommenheit? Jedenfalls machte er eine sehr gute Figur.
Wie es mit Henry beim Dinner im Club weiterging, konnte ich nicht beobachten. Er saß mit George und Margotan Mrs. Standishs Tisch und ich bei Mr. Standish. Sobald die Tische abgeräumt waren, sammelte sich am Rand der Tanzfläche eine Herrengruppe, der Henry und ich und die meisten anderen jungen Männer sich anschlossen. Ältere Männer blieben bei ihren Frauen und Töchtern oder bewegten sich in Richtung der Bar. Mr. Standish gehörte zur zweiten Gruppe. Sowie Henry bemerkte, daß Mrs. Standish allein zurückgeblieben war – ihre Töchter waren mit den Ehemännern auf der Tanzfläche, und George führte Margot herum, um sie mit den Gästen bekannt zu machen –, eilte er an ihre Seite. Im nächsten Augenblick waren sie auf dem Parkett. Ich hätte nicht gedacht, daß Gesellschaftstanz auf dem Stundenplan von Henrys Schulen in Polen oder Brooklyn gestanden hatte, aber Mrs. Standishs Gesicht gab zweifelsfrei zu erkennen, daß sie ihn für einen erfreulichen Partner hielt. Sein Beispiel ermutigte mich zur Nachahmung; ich wartete nicht, bis die Band eine Pause machte. Sobald sie mit »Tea for Two« zu Ende waren, löste ich Henry ab. Leider war der nächste Tanz eine Rumba. Den Rumbaschritt beherrschte ich nur theoretisch, mit der Praxis haperte es, und Spaß machte es schon gar
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