Ehrensachen
die letzte Stuhlreihe sein würde, Margot war mitten in einer ihrer großen Reden, aber er konnte nichts hören, und als er etwas hörte, konnte er es nicht verstehen, obwohl er den Text auswendig wußte. Auf einmal brüllte er sie an, ohne zu wissen, was er tat: Du klingst wie eine Debütantin beim Herrenabend für Erstsemester! donnerte er. Laß doch endlich dieses verdammte Nölen und Näseln! Obwohl er brüllte, konnte er Wilmerdings und Allens Kichern hören. Dann stand Wilmerding auf und klatschte Beifall – ob das ihm oder Margot galt, war unklar. Die Situation war so gräßlich, daß er nicht einmal merkte, wie Margot mit großen Schritten über die als Bühne abgeteilte Fläche lief, bis sie sich vor ihm aufbaute und schrie – diesmal so laut, daß keiner der Anwesenden sie überhören konnte –: Jetzt reicht’s mir, du Mistkerl. Dann ohrfeigte sie ihn links und rechts. Er stand nur stumm da, und sie stürmte davon.
Wie konnte ich nur alles so laufen lassen, wie habe ich den Überblick verloren? fragte er immer wieder und schüttelte ungläubig den Kopf. Ich weiß, ich war angespannt. Ich weiß, ich komme mit der Arbeit nicht nach, ich weiß, ich habe zuviel Zeit mit Madeleine vertan, und ich weiß auch, daß die Proben mit Margot frustrierend waren, aber wie mir so etwas passieren konnte, fasse ich einfach nicht. Daß ich gesagt habe, sie näselt, das hat ihr den Rest gegeben. In dem Punkt ist sie sehr empfindlich. Aber es war doch kein Weltuntergang.
Ich wandte ein, daß Margot dies offenbar anders sah.
Er nickte und zeigte auf die roten Flecken an seiner Wange. Irgendwie hatten sie die Probe in den Griff bekommen,er hatte Margots Text gelesen. Danach war er mit Bob Chapman zum Haus zurückgegangen. Unterwegs hatte Chapman ihm gut zugeredet: Was sich da abgespielt habe, solle er nicht zu schwer nehmen. Margot und du, ihr werdet darüber wegkommen, und für die Aufführung ist es vielleicht besser so, sagte er, denn Margot war keine ideale mère Ubu, im Gegensatz zu Jackson – Wilmerdings aufgeblasenem Freund –, dem die Rolle von père Ubu auf den Leib geschrieben ist. Bob hat aber auch gesagt, ich solle eine Lehre daraus ziehen: Es wäre besser gewesen, wenn ich Margots blasierte Darbietung genutzt und als eine zusätzliche widersinnige Facette von Mrs. Ubus grotesker Persönlichkeit präsentiert hätte. Ich hätte es wenigstens versuchen können. Dieser Rat, der so vernünftig war und so ruhig und diskret gegeben wurde, traf mich mehr als die Ohrfeige, ich kam mir vor wie ein dümmlicher Flegel, aber ich war dankbar.
Er sah ganz elend aus und fragte, ob ich etwas Alkoholisches im Zimmer hätte. George hatte mir zum Geburtstag eine Flasche Sherry geschenkt, davon war noch etwas übrig. Ich goß uns ein Glas ein. Henry trank aus, sah auf die Uhr und fragte, ob er mein Telefon benutzen dürfe. Ich dachte, er werde seine Mutter anrufen, deshalb ging ich mir die Hände waschen und hielt mich dann, um ihm mehr Zeit zu geben, im Schlafzimmer auf, wo ich die Hemden wegräumte, die gerade aus der Wäscherei gekommen waren. Erstaunt hörte ich statt einer polnischen Unterhaltung, wie Henry sagte, er würde gern mit Margot sprechen. Schweigen folgte. Das Mädchen in Margots Studentinnenheim, das Telefondienst hatte, suchte sie offenbar. Dann sprach Henry wieder und sagte ganz munter: Hallo Margot. Der Hörer am anderen Ende wurde so heftig auf die Gabel geknallt, daß ich es vom Schlafzimmer aus hören konnte. Dann legte auch Henry auf, sehr sanft, und meinte, zu mir gewendet:Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll, sie wollte nicht mit mir sprechen. Ich muß die Rolle besetzen. Das kann nicht warten, und ich muß es schaffen, mit ihr oder ohne sie. Aber daß sie so wütend ist, daß ich sie vielleicht verloren habe, das kann ich nicht aushalten.
Da es nach sieben war, schlug ich vor, zum Essen zu gehen. Die meisten Leute hatten schon gegessen, deshalb fanden wir einen Tisch für uns allein. Ich erklärte ihm, ich könne nicht verstehen, wie es ihm möglich sei, noch so viel für Margot zu empfinden, wie er behaupte, und gleichzeitig mit Madame van Damme weiterzutreiben, was immer er mit ihr trieb. Er sagte, daß er es selbst nicht verstehe; er sei vollkommen verwirrt.
Es war mir ein Rätsel, warum Henry glaubte, er könne ein Theaterstück auf die Bühne bringen und selbst inszenieren. Seine Erfahrung mit dem Theater beschränkte sich auf Shows am Broadway, zu denen ihn seine Eltern gegen seinen
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