Ehrensachen
ist auch verschnupft. Ein paar verknöcherte Alte behaupten, daß ich so ein Stück inszeniert habe, zeige, daß mir der nötige Ernst fehlt. Sie stellen sich vor, daß ein klassischer Philologe mit Selbstachtung, wenn er schon Theater machen will, dann wenigstens ein griechisches oder lateinischesStück inszenieren sollte und nicht diesen surrealistischen Unfug aus Frankreich. Sie hätten gar nicht gemerkt, daß es eine Aufführung von Ubu gab, wenn nicht soviel davon die Rede gewesen wäre.
In der Woche danach konnte er melden, daß er den Seminardirektor und den Professor, dessen Vorlesung über griechische Tragödien er hörte, mit ziemlicher Sicherheit beruhigt habe. Er habe ihnen erzählt, daß er in der Bibliothek eines Châteaus in den Ardennen Plautus gelesen und damit ganz zufällig das Interesse des Direktors am Brüsseler Nationaltheater geweckt habe und daß diesem die Parallelen zwischen Plautus und Jarry aufgefallen seien.
Die Aufzählung eindrucksvoller Namen, diese schamlose Wichtigtuerei, habe die Sache ins Positive gewendet, fügte er hinzu. Denis van Damme. Die Ardennen, ein Château in Frankreich, ein vermögender belgischer Industrieller. Auf einmal fangen sie an, mich mit einem ganz neuen Respekt zu betrachten. Leider habe ich ihnen ein idiotisches Versprechen gegeben, das ich mein Leben lang bereuen werde. Wenn mir meine Examensarbeit noch Zeit läßt, werde ich im nächsten Frühjahr ein griechisches oder lateinisches Stück auf die Bühne bringen, habe ich gesagt.
An dieses Versprechen hätte er sich aller Wahrscheinlichkeit nicht gebunden fühlen müssen. Ein paar Tage später erfuhr er, daß die Entscheidung über die Aufnahme in die anspruchsvollste akademische Vereinigung des Landes gefallen war und daß er zu der Handvoll auserwählter Studenten im dritten Jahr gehörte. Archie und ich luden ihn zur Feier seines Erfolges ins Henri IV . ein. Beim Dinner sagte Henry, er wolle keine Glückwünsche hören. Zum einen hatte er seinen Eltern nicht erklären können, was daran so besonders war. Seine Mutter habe gesagt: Heißt das, du bist nur einer von acht? Du bist nicht der Klassenprimus?
Außerdem beruht diese Wahl ausschließlich auf Arithmetik, sagte er; sie nehmen die acht Studenten mit den besten Noten. Niemand brauchte für mich zu stimmen, weil er mich mochte. Schön wär’s, wenn ich zur Abwechslung mal ausgewählt würde, weil alle finden, daß ich so ein netter Kerl bin.
Zur selben Zeit steckten Dr. Reiner und ich wieder in einer Krise. Ich hatte für den Kurs Kreatives Schreiben einen Roman angefangen, und das Schreiben ging nicht besser als die Analyse. An manchen Tagen schaffte ich höchstens ein paar Zeilen. Und ich brachte mehr Zeit mit George zu, nicht nur, weil ich ihn gern hatte, sondern auch, weil er nicht versuchte, mich in Probleme zu verwickeln, die nicht zu lösen waren. Wir aßen zusammen, tranken ein Bier, lachten über Berkshire-Klatsch und trennten uns wieder. Im letzten Sommer war ich nur eine Woche lang in Lenox gewesen und hatte meistens Tennis auf dem Platz der Standishs gespielt. Über Weihnachten war ich nicht nach Hause gefahren, und Ostern wollte ich auch nicht dort sein. George war meine Nachrichtenquelle. Ich bezweifelte nicht, daß ich meine Eltern mit meinem Wegbleiben kränkte. Aber ihr Schweigen – meine Mutter schrieb mir nicht mehr, und zu Weihnachten hatte sie mir drei Paar dicke Wollsocken und zwei rote Flanell-Schlafanzüge aus dem L. L.-Bean-Katalog geschickt – ließ keinen Zweifel, daß sie mich für beschädigte Ware hielten. Was nahmen sie mir mehr übel: daß ich mich in New Orleans hatte zusammenschlagen lassen oder meinen Nervenzusammenbruch? Für möglich hielt ich es auch, daß sie nach all den Jahren, in denen sie das Kind eines anderen aufgezogen und mehr oder weniger gute Miene dazu gemacht hatten, jetzt aussteigen wollten. Ein Standish-Trust finanzierte mein Weiterkommen. Ich war aus dem Haus, sie mußten sich nicht mehr um mich kümmern. Vielleicht waren sie heilfroh, mich endlich loszusein! Dr. Reinerzeigte kein Interesse an meinen Spekulationen; er sagte, wir sind nicht hier, um gegenwärtige Ereignisse zu verhandeln.
Wäre ich weniger verstrickt in meine eigenen Sorgen gewesen, hätte ich vielleicht gemerkt, wie isoliert Henry nach dem Bruch mit Wilmerding war. Wenn man Wilmerding und dessen Gefolgsleute wegstrich, hatte er außer Archie, George und mir keine Freunde – eine seltsame Situation für einen Kollegiaten,
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