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Ehrenwort

Titel: Ehrenwort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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essen gehen konnte. Jenny würde erst auf dem Bahnsteig zu ihm stoßen, sie sollte vor der Abreise noch drei Invaliden versorgen.
    Schließlich saßen sie glücklich in einem leeren Abteil bis Frankfurt; dort müssten sie in einen ICE umsteigen, und Max war froh, dass er Plätze reserviert hatte. Jenny hatte sich offensichtlich noch schnell umgezogen. Sie trug die langen Haare offen und war etwas zu stark geschminkt. Sie machte sich von einer Hauptstadt wohl falsche Vorstellungen. Soweit er informiert war, kam es in Mizzis Bekanntenkreis nicht auf ein besonders schickes Outfit an.
    »Meine Schwester lebt mit ihrer Freundin Jasmin zusammen«, erzählte er. »Mein Vater kann diese Frau nicht ausstehen, deswegen kommt Mizzi nur an Weihnachten zu Besuch.«
    Jenny lächelte angespannt. Im Gegensatz zu Max hatte sie kein Reise-, sondern Lampenfieber. Ob sie im Kreis der Studenten bestehen konnte?
    Die neue, rot-weiß gestreifte Hemdbluse war zwar ihr bestes Stück, aber in Berlin? Ob sie nicht zu brav oder gar zu spießig aussah? Kurz entschlossen krempelte sie die Ärmel ein Stück hoch.
    Max ergriff Jennys kräftige Hände und betrachtete die Tattoos am Unterarm mit den Augen des Verliebten.
    »Die solltest du aber behalten«, sagte er.
    »Nein«, sagte Jenny entschieden, »genau damit hat er mich reingelegt! Schmetterling und Drachen gefielen mir gut, daraufhin sagte Falko, dass er mir auf dem Rücken noch eine kleine Schwalbe stechen lassen wollte, und ich habe ihm vertraut. Später sah ich im Spiegel, dass das Schwälbchen ein riesiger Falke geworden war.«
    Max konnte sich kaum vorstellen, dass man nichts davon mitkriegte, wenn der Rücken großflächig von oben bis unten bearbeitet wurde. Aber vielleicht hatte Falko sie irgendwie abgelenkt.
    »Hast du dich etwa deswegen von ihm getrennt?«
    »Ach Quatsch, wenn's nur das gewesen wäre! Falko war überhaupt ein Riesenarschloch!«

    Auch Harald packte am Freitagnachmittag die Reisetasche mit Waschsachen, seinem karierten Hemd und einem Schlafanzug. Als seine Frau um sechs aus der Buchhandlung kam, fuhr er nach einem flüchtigen Abschiedskuss zügig los. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er nicht mehr geangelt, er freute sich riesig darauf.
    Kaum war ihr Mann fort, brachte Petra dem Alten ein Butterbrot und ein großes Glas Apfelschorle, schob sich selbst eine Fertigpizza in den Ofen und setzte sich vor den Fernseher. Eine Stunde später erschien eine fremde Pflegerin, die sich aber anscheinend auskannte. Als sie endlich allein war, begann Petra zu bohnern.
    Diese Tätigkeit hatte sie noch nie im Leben ausgeübt. Wo wurden eigentlich noch Dielen gebohnert? Oder waren es eher Parkettböden in Schlössern? Der Läufer war schnell zusammengerollt, das Wachs rasch aufgetragen, aber die nötige Glätte war noch lange nicht erreicht. Da hieß es immer wieder wischen und polieren, bis die Arme lahm und die Knie steif wurden. Am Ende war Petra fix und fertig, streckte sich wohlig in der heißen Badewanne aus und war zufrieden mit sich und ihrem hinterhältigen Werk.
    Um zehn lag sie im Bett und dachte an ihren Freund, mit dem sie jetzt eigentlich zusammen sein wollte. Was wohl ihr Mann jetzt machte? Wahrscheinlich hockte er in einer Dorfkneipe, hatte Jägerschnitzel mit brauner Soße im Bauch und trank mit Jürgen ein Bier nach dem anderen. Ihr kleiner Max war wohl mit seiner Schwester unterwegs, wahrscheinlich auch mit Jasmin. Ob ihm das Berliner Nachtleben Spaß machte? Für Diskotheken hatte er noch nie etwas übriggehabt. Mizzi würde ihm sicher jede Menge Mädchen vorstellen. Petra schlief erschöpft ein und träumte von einer Lesbenkneipe, in der sich ihre Große wahrscheinlich meistens herumtrieb.

    Petra hatte schon tief und fest geschlummert, als sie von einem ohrenbetäubenden Lärm geweckt wurde. In panischem Schrecken und völlig desorientiert fuhr sie hoch, hörte noch einen grauenhaften Klageschrei, dann herrschte Grabesstille. Unfähig, sich zu rühren, begriff sie endlich, was geschehen war.
    Na also, dachte sie zufrieden, gleich in der ersten Nacht hat's geklappt, und sie beschloss, nicht sofort nach dem Rechten zu sehen, sondern sich noch ein bisschen tot zu stellen.

14

    Am späten Freitagnachmittag kamen Jenny und Max am Berliner Hauptbahnhof an. Beide staunten über das imposante Gebäude und fragten sich, wo sie wohl abgeholt würden, als Mizzi schon vor ihnen stand. Die Geschwister umarmten sich, Jenny wurde ebenfalls, wenn auch etwas

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