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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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Rande zu kommen, war keineswegs leicht zu lösen. Holland war das einzige Land in Europa, in dem Studenten mit Streiks gegen die Entlassung jüdischer Professoren protestiert hatten, und die erste Deportation von Juden in deutsche Konzentrationslager war mit einer Art Generalstreik beantwortet worden – dabei handelte es sich, im Gegensatz zu den Deportationen in die Vernichtungslager, lediglich um eine sogenannte Strafmaßnahme, die sich ereignete, lange bevor die »Endlösung« Holland erreicht hatte. (Die Deutschen, wie de Jong wohl zu Recht bemerkt, hatten daraus gelernt und leiteten von da ab alle Maßnahmen durch den Judenrat, der die jeweiligen Verordnungen in einem Wochenblatt veröffentlichte. Straßenrazzien kamen nicht mehr vor – und auch keine Streiks von seiten der Bevölkerung.) Trotzdem fand die weitverbreitete, auch von Antisemiten geteilte Feindseligkeit der holländischen Bevölkerung gegen antijüdische Maßnahmen ein Gegengewicht in zwei Faktoren, die den Juden schließlich zum Verhängnis wurden. Erstens gab es in Holland eine starke nazistische Bewegung, der man gewisse polizeiliche Maßnahmen anvertrauen konnte, zum Beispiel die, Juden festzunehmen oder in ihren Verstecken aufzuspüren usw. Zweitens tendierten die einheimischen Juden ganz ungewöhnlich stark dazu, eine Trennungslinie zwischen sich selbst und den neuangekommenen zu ziehen, wahrscheinlich ein Ergebnis der sehr unfreundlichen Haltung, die die holländische Regierung gegenüber Flüchtlingen aus Deutschland eingenommen hatte, und wohl auch, weil wie in Frankreich der holländische Antisemitismus sich wesentlich auf ausländische Juden konzentrierte. Dies machte es für die Nazis relativ einfach, ihren Judenrat einzusetzen, der eine geraume Zeit in der Illusion lebte, daß nur deutsche und andere ausländische Juden den Deportationen zum Opfer fallen würden; dies dürfte auch dazu beigetragen haben, daß zusätzlich zu den holländischen Polizeieinheiten eine jüdische Polizeitruppe aufgestellt werden konnte. Das alles führte zu einer Katastrophe, die in keinem westlichen Staate ihresgleichen hatte; sie kann nur mit der unter völlig anderen und von vornherein vollkommen verzweifelten Bedingungen erfolgten Auslöschung des polnischen Judentums verglichen werden. Die Haltung der holländischen Bevölkerung ermöglichte es zwar, im Gegensatz zu Polen, einer großen Anzahl von Juden, etwa 20 000 bis 25 000, sich zu verbergen – eine sehr hohe Zahl für ein so kleines Land –, aber von ihnen wurde doch ungefähr die Hälfte früher oder später entdeckt, zweifellos mit Hilfe berufsmäßiger und freiwilliger Denunzianten, was auch ein sehr hoher Prozentsatz ist. Im Juli 1944 waren 113 000 Juden deportiert, die meisten davon nach Sobibor, einem Lager am Bug bei Lublin, wo es eine Auslese von Arbeitsfähigen überhaupt niemals gegeben hat. Dreiviertel aller in Holland lebenden Juden wurden ermordet, davon waren zwei Drittel in Holland geborene holländische Bürger. Die letzten Transporte rollten nach Osten, als im Herbst 1944 die alliierten Vorposten bereits bis zur holländischen Grenze vorgestoßen waren. Von den 10 000 Juden, die im Versteck überleben konnten, waren etwa 75 % Ausländer – ein Prozentsatz, der zeigt, wie teuer die einheimischen Juden für ihre Illusionen bezahlt haben.
    Auf der Wannsee-Konferenz hatte Martin Luther vom Auswärtigen Amt darauf hingewiesen, daß man in Skandinavien, besonders in Norwegen und Dänemark, mit großen Schwierigkeiten werde rechnen müssen. (Schweden wurde nie besetzt, und Finnland stand zwar während des Krieges auf seiten der Achse, war jedoch das einzige Land, das die Nazis in der Judenfrage – über 2000 Juden lebten in Finnland – nahezu völlig in Frieden ließen. Die überraschende Ausnahme mag Hitlers Hochachtung für die Finnen zuzuschreiben sein, die er vielleicht nicht durch Drohungen und Erpressungen unter Druck setzen wollte.) Luther schlug vor, Evakuierungen aus Skandinavien für den Augenblick hinauszuschieben; was Dänemark anging, so verstand sich das von selbst, denn das Land hatte seine unabhängige Regierung behalten und wurde bis zum Herbst 1943 als neutraler Staat respektiert, obgleich es zur gleichen Zeit wie Norwegen, im April 1940, von der Invasion deutscher Truppen betroffen wurde. In Dänemark gab es keine nennenswerte faschistische oder nazistische Bewegung, also auch keine Kollaborateure. In NORWEGEN dagegen hatten die Nazis enthusiastische Anhänger,

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