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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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»ausgesiedelten« Juden zu interessieren und die Deutschen um Genehmigung zum Besuch der »Umsiedlungszentren« zu drängen – die natürlich weder Wisliceny noch Eichmann erteilen konnten, da die »umgesiedelten« Juden nicht mehr unter den Lebenden weilten. Im Dezember 1943 kam Dr. Edmund Veesenmayer nach Bratislava, um mit Tiso selbst zu sprechen: er war von Hitler geschickt worden und hatte Auftrag, mit Tiso »Fraktur zu reden«. Tiso versprach, 16 000 – 18 000 ungetaufte Juden in Konzentrationslager zu stecken und ein besonderes Lager für etwa 10 000 getaufte Juden zu errichten, aber auf Deportationen ließ er sich nicht ein. Im Juni 1944 erschien Veesenmayer, inzwischen Reichsbevollmächtigter für Ungarn, aufs neue und verlangte, daß die übriggebliebenen slowakischen Juden in die ungarische Aktion einbezogen würden. Tiso weigerte sich auch diesmal.
    Im August 1944, als die Rote Armee näher rückte, brach in der Slowakei ein wirklicher Volksaufstand aus, und die Deutschen besetzten das Land. Wisliceny war damals in Ungarn und wurde vermutlich sowieso nicht mehr für zuverlässig gehalten. Das RSHA schickte Alois Brunner nach Bratislava, um die übriggebliebenen Juden zu verhaften und zu deportieren. Brunner verhaftete und deportierte zuerst die Funktionäre des Hilfskomitees und dann, diesmal mit Hilfe deutscher SS-Einheiten, weitere 12 000 bis 14 000 Menschen. Als die Russen am 4. April 1945 in Bratislava einrückten, waren vielleicht noch 20 000 Juden übrig, die die Katastrophe überlebt hatten.

XIII Die Mordzentralen im Osten
    Der Ostraum unter der Naziherrschaft umfaßte Polen, die baltischen Staaten und die besetzten russischen Gebiete und unterstand vier verschiedenen Verwaltungen: die vom Reich annektierten westpolnischen Provinzen, der sogenannte Warau, unter Gauleiter Arthur Greiser; das Ostland, in dem Litauen, Lettland, Estland und Weißrußland zusammengefaßt waren, mit Riga als Sitz der Besatzungsbehörden; das Generalgouvernement in Zentralpolen unter Hans Frank und die Ukraine unter Alfred Rosenbergs Ministerium für die besetzten Ostgebiete. Mit diesem Gebiet begann der Staatsanwalt die Beweisführung der Anklage, während die Richter umgekehrt in der Urteilsfindung die Vorgänge im Osten ans Ende stellten.
    Die Frage, von welchem geographischen Ausgangspunkt aus der Gesamtkomplex aufgerollt werden sollte, war auch juristisch von erheblicher Bedeutung. Der Osten war der zentrale Schauplatz jüdischen Leidens, die grauenvolle Endstation aller Deportationen, der Ort, von dem zu entkommen fast niemals möglich war, wo die Zahl der Überlebenden fünf Prozent selten überschritt. Der Osten war überdies das große jüdische Reservoir Vorkriegseuropas gewesen; über drei Millionen hatten in Polen, 260 000 in den baltischen Staaten und über die Hälfte der schätzungsweise drei Millionen russischer Juden in Weißrußland, der Ukraine und der Krim gelebt. Da der Ankläger primär vom Leiden des jüdischen Volks und »dem Ausmaß des Völkermords« ausging, der an ihm versucht worden war, war es logisch, hier anzufangen und dann herauszufinden, wieviel spezifische Verantwortung für diese Hölle dem Angeklagten zugeschrieben werden konnte. Erschwert wurde das durch die »Knappheit« des Beweismaterials in bezug auf Eichmanns Wirken im Osten; diese Schwierigkeit schrieb man der Tatsache zu, daß die Gestapoakten und besonders die Akten von Eich ins Amt von den Nazis vernichtet worden waren. Die Dürftigkeit der dokumentarischen Beweismittel bot dem Ankläger den wohl nicht unwillkommenen Vorwand, eine endlose Prozession von Zeugen aufzurufen, die über die Vorgänge im Osten aussagen sollten, wobei vermutlich noch andere Gründe mitspielten. Die Anklagebehörde stand – wie während des Prozesses nur angedeutet, später jedoch ausführlich dargestellt wurde (in der Sonderausgabe des Bulletins von Yad Washem, dem israelischen Archiv für die Naziperiode, vom April 1962) unter erheblichem Druck von Seiten israelischer Überlebender, die immerhin etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes bilden. In Scharen waren sie spontan an die Gerichtsbehörden und auch an das Yad Washem herangetreten, das den offiziellen Auftrag hatte, einen Teil der dokumentarischen Beweise zusammenzustellen, um sich als Zeugen anzubieten. Die schlimmsten Fälle »lebhafter Phantasie« – Leute, die »Eichmann an verschiedenen Stellen gesehen hatten, wo er nie gewesen ist« – wurden aussortiert, aber

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