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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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sich wirklich zu informieren, er kannte nicht einmal das Parteiprogramm, nie hatte er »Mein Kampf« gelesen. Kaltenbrunner hatte ihm geraten: Warum treten Sie nicht der SS bei? Und er hatte erwidert: Warum auch nicht? So war es passiert, und mehr war nicht daran.
    Natürlich war mehr daran. Was Eichmann dem vorsitzenden Richter im Kreuzverhör zu erzählen unterließ, war, daß er ein strebsamer junger Mann gewesen war, dem sein Job als Reisender für die Vacuum Oil Company zum Halse heraushing. Aus einer bedeutungs- und sinnlosen Allerweltsexistenz hatte ihn der Wind der Zeit ins Zentrum der »Geschichte« geweht, wie er es verstand, nämlich in die »Bewegung«, die niemals stillstand und in der jemand wie er – eine gescheiterte Existenz in den Augen der Gesellschaft, seiner Familie und deshalb auch in seinen eigenen Augen – noch einmal von vorne anfangen und schließlich es doch noch zu etwas bringen konnte. Selbst wenn ihm nicht immer behagte, was er tun mußte (zum Beispiel Menschen waggonweise in den Tod zu schicken, anstatt sie aus dem Lande zu jagen), selbst wenn er schon ziemlich früh ahnte, daß die ganze Geschichte ein böses Ende nehmen und Deutschland den Krieg verlieren würde, selbst wenn aus allen seinen Lieblingsplänen nichts wurde (aus der Evakuierung des europäischen Judentums nach Madagaskar, aus der Errichtung eines »jüdischen Heims« in der Gegend von Nisko in Polen, aus seiner selbstverfertigten Berliner Verteidigungsanlage gegen russische Tanks), selbst wenn er zu seinem »größten Kummer« niemals über den Rang eines SS-Obersturmbannführers hinauskam – mit einem Wort: selbst wenn mit Ausnahme des einen Jahres in Wien sein ganzes Leben seiner Meinung nach von den »Kummer- und Leidfäden der Unglücksnorne« durchzogen war, so vergaß er doch niemals, was die Alternative gewesen wäre. Nicht nur in Argentinien, wo er eine armselige Flüchtlingsexistenz führte, sondern noch im Jerusalemer Gerichtssaal, als sein Leben so gut wie verwirkt war, hätte er – wenn ihn jemand gefragt hätte – es immer noch vorgezogen, als Obersturmbannführer a. D. gehängt zu werden, anstatt ein friedliches normales Leben als Reisender der Vacuum Oil Company zu Ende zu leben.
    Der Anfang von Eichmanns neuer Laufbahn war nicht sehr viel versprechend. Im Frühjahr 1933, als er bereits stellungslos war, wurde die Nazipartei mit allen ihren Gliederungen in Österreich verboten als Folge von Hitlers Machtergreifung. Aber auch ohne diese neue Kalamität wäre eine Laufbahn in der österreichischen Partei nicht in Frage gekommen: selbst die älteren Mitglieder der SS arbeiteten damals noch hauptamtlich in ihren Berufen, und auch Kaltenbrunner war noch in der Anwaltspraxis seines Vaters tätig. Deshalb entschloß sich Eichmann, nach Deutschland zu gehen, was um so natürlicher war, als seine Familie ihre deutsche Staatsangehörigkeit niemals aufgegeben hatte. (Diese Tatsache war von einiger Bedeutung für den Prozeß. Dr. Servatius hatte die westdeutsche Regierung gebeten, die Auslieferung des Angeklagten zu erwirken und jedenfalls die Kosten der Verteidigung zu übernehmen, und Bonn lehnte beide Anträge ab mit der Begründung, daß Eichmann kein Deutscher sei – was einfach den Tatsachen nicht entsprach.) Jenseits der deutschen Grenze, in Passau, war Eichmann auf einmal wieder Reisevertreter; als er sich bei seinem zuständigen SS-Führer meldete, fragte er ihn eifrig, »… ob er vielleicht einen Weg wußte, der mich zur Vacuum Oil Co., zur bayrischen Vacuum Oil Co., führen würde …«. Nun, dies war einer der nicht seltenen Rückfälle aus einer seiner Lebensperioden in die andere; wenn man ihm – in Argentinien oder in Jerusalem – vorhielt, daß seine Äußerungen unverwässerte Naziauffassungen widerspiegelten, entschuldigte er sich damit: »… ich komme immer noch in die alte Tour.« Aber »die alte Tour« in Passau war schnell kuriert; man bedeutete ihm, es sei höchste Zeit für eine militärische Ausbildung – »Schön, dachte ich, warum nicht Soldat werden?« – und schickte ihn rasch hintereinander in zwei bayrische SS-Lager, nach Lechfeld und Dachau (er hatte nichts mit dem dortigen Konzentrationslager zu tun), wo die »Österreichische Exillegion« ausgebildet wurde. So wurde er trotz seines deutschen Passes eine Art Österreicher. Er blieb in diesen Ausbildungslagern vom August 1933 bis zum September 1934, stieg zum Rang eines Scharführers auf und hatte genügend Zeit, sich seine

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